Der Aufstand
rebellieren ließ. Er hatte sich schon im Flugzeug zweimal fast übergeben müssen, aber in den vergangenen vierundzwanzig Stunden so wenig gegessen, dass es nichts gab, was er hätte erbrechen können.
Der Fahrer drehte sich ruckartig zu ihm um und sagte etwas auf Rumänisch. Joel sprach den Namen des Bahnhofs «Gara de Nord» so gut es ging aus, und der Typ nickte und fädelte sich zügig in den dichten Verkehr in Richtung Bukarest ein. Sie versuchten, sich zu unterhalten, doch der Fahrer konnte ebenso wenig Englisch wie Joel Rumänisch. Nach wenigen Minuten zwecklosen Geschimpfes über das Dreckswetter konzentrierte sich der Typ darauf, über andere Fahrer zu fluchen, während Joel sich in den Sitz fläzte und wie benommen dem Rhythmus der Scheibenwischer folgte, die Hand auf dem Kreuzbehälter neben ihm.
Er konnte selbst kaum glauben, was er da zu tun im Begriff war.
Es war ein regelrechter Höllenritt durch die Stadt. Die rumänischen Autofahrer schienen die Verkehrsregeln lediglich als unverbindliche Empfehlungen zu betrachten, und Joels Taxi verfehlte mehrfach nur um Haaresbreite Außenspiegel oder Kotflügel, während es über die Schlaglöcher und Spurrillen auf dem Weg zum Bahnhof ratterte. Bukarest musste einmal eine schöne Stadt gewesen sein, aber die architektonischen Hinterlassenschaften von Ceau ș escus brutalem Regime kauerten wie riesige Betonschildkröten zwischen klassizistischen Gebäuden und barocken Fassaden. Überall liefen herrenlose Hunde wie selbstverständlich zwischen den hupenden Autos durch, ohne dass sie es allzu eilig zu haben schienen, auf die andere Straßenseite zu gelangen. Joel war heilfroh, als das Taxi endlich mit quietschenden Reifen vor dem säulenbestückten Eingang des Gara de Nord Bucure ș ti zum Stehen kam.
Ein Blick auf den Zugfahrplan verriet ihm, dass er noch eine halbe Stunde warten musste. Er fand mitten im Bahnhof ein ruhiges Café und setzte sich an einen Tisch in der Ecke. Der Kaffee schmeckte reichlich abgestanden, aber zumindest hatte Joel ein warmes und trockenes Plätzchen gefunden, an dem er ein Weilchen sitzen und nachdenken konnte, bevor er sich auf die nächste Etappe seiner Reise machte. Er zog den Reißverschluss der Dokumententasche an der Vorderseite des Rucksacks auf und holte die Doppelseite heraus, die er aus dem Atlas von Decs Freund gerissen hatte. Dann schob er seine Kaffeetasse zur Seite und entfaltete das Blatt auf dem Tisch.
Das ungute Gefühl im Magen war sofort wieder da, als er auf die gezackte Blutspur starrte, die sich quer über das Papier zog. Die Fingerabdrücke waren krustig und braun geworden. Ein paar Teilchen davon waren abgeblättert und auf den Tisch gefallen, als er das Kartenblatt entfaltet hatte; als ihm plötzlich klar wurde, dass es sich dabei um Krümel geronnenen Vampirbluts handelte, wischte er sie voller Abscheu weg.
Er schlürfte noch einmal an seinem Kaffee und versuchte, sich zu konzentrieren. Noch immer wusste er nicht recht, was genau er eigentlich vorhatte. Zum hundertsten Mal seit dem Vortag ließ er, immer vorbei an Kate Hawthornes Blut, den Finger über die Karte gleiten und starrte auf die unaussprechbaren Ortschaften auf dem Weg. Sie waren für ihn ohne jede Bedeutung. Den Namen dagegen, den er aus dem todgeweihten Mädchen herausgequetscht hatte, fand er nirgends – weder hier auf der Atlaskarte noch in seinem Reiseführer. Und auch GoogleMaps hatte nichts mit dem Namen anfangen können, wie er noch in Großbritannien frustriert festgestellt hatte. Aber irgendwo musste der Ort sich befinden, irgendwo zwischen den schrecklichen Fingerabdrücken, die sich um einen Teil der Transsilvanischen Alpen knapp dreihundert Kilometer nordwestlich von Bukarest häuften.
Irgendwo musste der Ort einfach sein … Joel hatte schon zu viel hinter sich, um sich noch von Zweifeln erschüttern zu lassen. Und so bestand sein bester – und im Augenblick einziger – Plan darin, auf gut Glück in die ungefähre Gegend zu fahren, die vom Blut auf der Atlasseite markiert wurde. Einmal dort angekommen, konnte er Fragen stellen und auf Antworten hoffen, die ihn weiterbrachten.
Durch das Fenster des Cafés sah er den Zug in den Bahnhof einfahren. Er schaute auf seine Armbanduhr, schob das Kartenblatt wieder in seinen Rucksack, nahm seine Sachen und machte sich auf den Weg zum Zug.
Der Wechsel von sanft welligem Hügelland, weitläufigen Kiefernwäldern und dramatischen Berglandschaften reichte nicht aus, um Joel wach
Weitere Kostenlose Bücher