Der Aufstand
zu halten, während der Zug sich in den folgenden Stunden unaufhaltsam nach Nordosten bewegte. Als er kurz vor drei Uhr nachmittags aus seinen finsteren Träumen erwachte, bremste der Zug gerade bei der Einfahrt in die mittelalterliche Stadt Sighi ș oara. In der Straße vor dem Bahnhof kam Joel an etlichen Ständen mit heißem Essen vorbei, wo gegrilltes Fleisch und Backwaren feilgeboten wurden, doch er konnte sich noch immer nicht überwinden, etwas zu essen. Der Himmel war fahlgrau, und durch die Straßen fegte ein eiskalter, schneidender Wind. Joel schlug den Kragen seiner Jacke hoch, schulterte seinen Rucksack und klemmte sich das kostbare Metallbehältnis fest unter den Arm, während er durch die Stadt streifte.
Der von wehrhaften Mauern umgebene mittelalterliche Teil Sighi ș oaras lag auf einem Hügel. Seine Straßen waren gepflastert, und die Türme orthodoxer Kirchen beherrschten seine Silhouette. Aus seinem Reiseführer wusste Joel, dass in der Hochsaison die Gassen voller Touristen waren, die auf den Spuren des transsilvanischen Adels wandelten und sehen wollten, wo Vlad Dracul, der Vater des legendären Pfählers, einst gelebt hatte. Er kam am Schild eines Foltermuseums vorbei und schließlich am ehemaligen Wohnhaus von Vlad selbst, in dem sich nun ein Restaurant befand. Selbst hier hatte längst die Moderne Einzug gehalten, und Legenden, die einst die Menschen in Angst und Schrecken versetzt hatten, dienten nur noch dazu, Touristen anzulocken. Umso dümmer kam Joel sich vor, als er voller Unbehagen durch die halb leere Straße schlenderte und sich bei jedem Passanten fragte, ob dieser ihn womöglich darüber aufklären könnte, wo dieses geheimnisvolle «Vâlcanul» zu finden war. Welchen Eindruck würde er wohl auf die Leute machen, durchnässt und mit wildem Blick und nur aus einem einzigen Grund die ganze Strecke bis hierher gereist – um Vampire zu suchen und vor allem: um sie zu töten. Mit großer Wahrscheinlichkeit hielt man ihn für einen Verrückten, und allmählich fragte er sich selbst, ob er nicht vielleicht tatsächlich auf dem besten Weg war, den Verstand zu verlieren.
Viermal war er kurz davor, an jemanden heranzutreten und ihn anzusprechen – und viermal schreckte er im letzten Augenblick davor zurück. Schließlich gab er auf.
Am Rande der Stadt begann eine schmale Landstraße, die sich durch die Kiefernwälder hochschlängelte. Unentschlossen legte Joel den ersten Kilometer zurück, kickte Steine weg und spürte, wie der Schneeregen mit kalten, klammen Fingern durch seine Kleidung nach ihm griff. Der Himmel verfinsterte sich zusehends, und mit dem Tageslicht schwand auch Joels Entschlossenheit, die ihn bis hierher gebracht hatte. Eine tiefe Niedergeschlagenheit erfasste ihn. Seine ganze Situation kam ihm jetzt nur noch absurd vor. Es war ein schwerer Fehler gewesen war, überhaupt hierherzufahren.
Joel hing noch immer solch finsteren Gedanken nach, als ihn ein Pritschenwagen überholte. Kurz darauf leuchtete im Schneeregen das eine noch funktionierende Bremslicht des Fahrzeugs auf, bevor es am Straßenrand anhielt. Der Fahrer war allein – ein bärtiger, dicklicher Typ, der Joel auf den ersten Blick sympathisch war.
Das Führerhaus roch nach Kaffee und Zigaretten, und aus dem Radio drang fröhliche rumänische Volksmusik. Eine Mitfahrgelegenheit ins Nirgendwo erschien Joel immer noch attraktiver, als weiter ziellos die Straße entlangzutippeln, und so stieg er ein.
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Kapitel 75
J oels Retter hieß Gheorghe. Er wirkte ausgesprochen unbeschwert, lächelte oder lachte ständig und schien sich nicht im Geringsten daran zu stören, dass keiner von ihnen auch nur ein Wort von dem verstand, was der andere sagte. Der Lastwagen holperte über die kurvenreichen Passstraßen, und wann immer sich in den undurchdringlich scheinenden Wänden des Kiefernwalds eine Lücke auftat, erhaschte Joel einen Blick auf die düsteren Berge dahinter. Die warme Luft aus der Heizung ließ seine Hände und Füße allmählich wieder auftauen, und Entschlossenheit breitete sich wie die Wärme nach einem kräftigen Schluck Whisky wieder in seinem Innern aus. Nach einer Weile war er entspannt genug, um einen Witz zu erzählen – einen ziemlich albernen Witz, mit dem Sam Carter vor einiger Zeit die gesamte Wache zum Lachen gebracht hatte. Gheorghe verstand ganz offensichtlich kein Wort, fand ihn aber trotzdem derart amüsant, dass er sich anschließend die Tränen von seinen roten
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