Der Aufstand
seine Eltern bei ihren Besuchen in diesem Raum geschlafen hatten. Er schaute nicht hinein, sondern stieß stattdessen eine andere Tür auf.
Sein Großvater hatte dieses Zimmer sein
«sanctus sanctorum»
genannt – den geheiligten Raum, in dem er Stunden über seiner «Arbeit» verbracht hatte. Joels Vater hatte ihn nie dort hineingelassen – vielleicht deswegen, weil er trotz all seiner abfälligen Bemerkungen über die obsessive Beschäftigung des «verrückten Nick» mit übernatürlichen Phänomenen dessen Wunsch respektiert hatte, dabei nicht gestört zu werden. Oder einfach nur, weil er vermeiden wollte, dass der Kopf seines Sohnes noch mehr, als es ohnehin schon der Fall war, mit derartigem Unsinn angefüllt wurde.
Als Junge hatte sich Joel lebhaft ausgemalt, wie dieser geheimnisvolle Raum aussehen musste: Sein Großvater inmitten von Stapeln alter Bücher über seinen Schreibtisch gebeugt, vertieft in abstruse, in längst vergessenen Sprachen verfasste Manuskripte und verloren in seiner Suche nach den Geheimnissen der Vampire. Seine kindliche Phantasie hatte sich jedes Detail vorgestellt, bis hin zum Pfeifenständer auf dem Schreibtisch, der Dose mit köstlich duftendem Tabak aus einem exotischen Land, dem Tintenfass und dem Federkiel. Und vielleicht noch ein zerwühltes Bett in einer Ecke, in das sich sein Großvater nach stundenlangem Studium erschöpft zurückzog.
Joel öffnete die Tür, leuchtete mit der Taschenlampe hinein und sah zum ersten Mal, dass das Zimmer vollkommen anders war als in seiner Vorstellung. Es war schlicht und einfach ein Schlafzimmer – und sonst gar nichts. Ein einzelnes Bett, ein Holzstuhl, eine Frisierkommode und ein großer, schwerer, alter Schrank, der den größten Teil der hinteren Wand einnahm. Keine Bücher, kein Schreibtisch, keine aufgerollten Manuskripte, keine Gerätschaften zum Töten von Vampiren.
Aber was hatte sein Großvater all die vielen Stunden lang hier oben getan? Einfach nur geschlafen?
Auf der Frisierkommode stand ein Bilderrahmen. Das Foto darin war vom Alter und der Feuchtigkeit verblasst. Joel nahm es und wischte die Spinnweben vom staubigen Glas. Er schluckte, als er das Bild sah. Er erinnerte sich noch an den Tag, an dem es aufgenommen worden war, mit dem Selbstauslöser an der alten Kamera seines Vaters. Es zeigte sie alle vier, wie sie auf der Steinmauer vor dem Häuschen saßen. Joels Großvater lächelte; er hatte seinem Enkel den Arm um die Schultern gelegt und drückte ihn fest an sich.
Alle sahen sie so glücklich aus, doch nur wenige Wochen später sollten drei der vier tot sein. Joel stellte das Bild wieder ab und riss eine Schublade der Frisierkommode auf. In ihr war nicht viel: eine rostige Brille; eine alte mechanische Armbanduhr mit Wochentags- und Datumsanzeige, die am 13 . März kurz vor vier Uhr stehengeblieben war; ein Schildpattkamm mit ein paar weißen Haaren. Als Joel sie berührte, spürte er eine tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen.
Er wusste nicht einmal genau, wonach er eigentlich suchte. Es schien unmöglich, dass sein Großvater keinerlei Aufzeichnungen über seine finstere, geheimnisvolle «Arbeit» gemacht hatte. Hier musste doch etwas über Vampire zu finden sein. Etwas über das Kreuz von Ardaich, über das er so oft gesprochen hatte.
In Joels Kopf hallte seine Stimme von damals wider.
«Das muss ja ein wertvolles Kreuz sein, Großvater.»
«Ja, mein Junge, es ist unbezahlbar und absolut einzigartig. Die Alten sprachen ihm große Macht im Kampf gegen das Böse zu. Ein solches Kreuz gibt es kein zweites Mal.»
«Was macht es mit einem Vampir?»
«Wenn einer von ihnen auch nur in seine Nähe käme, würde das für ihn das schrecklichste Ende bedeuten, das man sich nur vorstellen kann, Joel.»
«Es tötet sie?»
«Ein Wesen, das bereits tot ist, kann man nicht töten. Aber es vernichtet sie so vollständig, dass sie niemals wiederkehren können.»
«Und wo ist es jetzt?»
«Es ist verlorengegangen, Joel. Vor vielen, vielen Jahren schon. Manche Menschen dachten, es sei nur eine Legende, aber ich weiß, dass es existiert. Die Welt wird viel sicherer sein, sobald es wiederauftaucht, glaub mir.»
Joel schloss die Schublade der Frisierkommode und ging zum Schrank. Seine Tür knarrte an den rostigen Scharnieren, als er sie öffnete und hineinleuchtete. Bloß ein paar alte Kleidungsstücke, sonst nichts; er entdeckte eine Strickjacke, an die er sich noch erinnern konnte und die jetzt mit einer dicken Schicht
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