Der Aufstand
Vampir sich vor so vielen Jahren gewaltsam Zutritt verschafft hatte.
Und als er so dastand und die Erinnerungen wieder auf ihn einstürzten, dachte Joel über den ebenso seltsamen wie wunderbaren Menschen nach, der sein Großvater gewesen war.
Die Frage, warum Nicholas Solomon irgendwann Mitte der sechziger Jahre plötzlich und ohne erkennbaren Grund seiner ehrbaren gutbürgerlichen Existenz abgeschworen und seine Frau verlassen hatte, um praktisch über Nacht zu verschwinden und als Einsiedler hier am Ende der Welt zu leben, war in der Familie Solomon immer ein heißdiskutiertes Thema gewesen. Joels Eltern hatten ihm eingeimpft, sein Großvater sei selbstsüchtig, obsessiv und vollkommen durchgeknallt – ein Mensch also, für den das Wort «Exzentriker» viel zu milde war. Sie hatten ihn den «verrückten Nick» genannt.
Noch Jahre nach seinem unerklärlichen Verschwinden hatte seine Verwandtschaft jeden Kontakt zu ihm vermieden. Joel war etwa fünf Jahre alt gewesen, als sein Vater aus Gründen, über die nie gesprochen worden war, beschlossen hatte, dies zu ändern. Zu den frühesten Ereignissen, an die Joel sich noch erinnerte, gehörte das Telefongespräch seines Vaters mit einem Privatdetektiv, der herausfinden sollte, wohin sich der alte Mann zurückgezogen hatte. Kurz danach hatte die Familie den Kontakt zu ihm erneuert und ihm ihren ersten Besuch in seinem Versteck im Hochland abgestattet.
Willkommen waren sie nicht gerade gewesen. Nicholas Solomon hatte gewirkt, als sei er tiefunglücklich über ihre Anwesenheit; er war so nervös und ungeduldig gewesen, als habe er es gar nicht erwarten können, dass sie wieder abfuhren. Sein Vater hatte hinterher behauptet, der alte Mann könne sie nicht ausstehen, aber der junge Joel hatte das nie geglaubt. Offenbar hatte er als Einziger auch die Traurigkeit in den Augen seines Großvaters bei ihrem Abschied gesehen. Als ihre Besuche in der abgelegenen Hütte im Lauf der Jahre häufiger geworden waren, hatte Joel immer das Gefühl gehabt, dass die zunehmende Verbundenheit zwischen ihm und seinem Großvater im Grunde das Einzige war, das die Familie noch zusammenhielt. Er hatte den alten Mann von ganzem Herzen geliebt, und daran würde sich nie etwas ändern.
Eigentlich gehörte das leerstehende Häuschen Joel, denn nachdem der Onkel und die Tante, die ihn nach der Tragödie bei sich aufgenommen hatten, von der Hütte im Wald nichts hatten wissen wollen, war sie ihm an seinem achtzehnten Geburtstag überschrieben worden. Er hatte nicht darüber nachdenken wollen und auch nie mit dem Gedanken gespielt, sie renovieren zu lassen, um sie anschließend zu verkaufen. Stattdessen ließ er sie vor sich hin rotten.
Die morsche Tür knarrte laut, als er sie aufstieß und mit der Taschenlampe in der Hand in die Diele trat. Die Fugen zwischen den steinernen Bodenplatten waren mittlerweile von Unkraut besiedelt, und das ganze Haus roch stark nach feuchter Erde und Moder.
Es roch wie in einem Grab.
Er trat in die zerfallenden Überreste des einstigen Wohnzimmers und starrte ein paar Sekunden lang auf die Stelle, an der seine Eltern nach ihrer Ermordung gelegen hatten. Und auf die Stelle, die ihm in tausend Albträumen immer wieder erschienen war – die, an der er seinen Großvater getötet hatte. Seine rechte Hand zuckte. Selbst nach so vielen Jahren spürte er noch in seinem Arm, wie die Klinge abgebremst wurde, als sie durch Fleisch und Knochen fuhr.
Der Gedanke, über Nacht hier bleiben zu müssen, behagte ihm gar nicht, aber draußen wuchs der Wind sich zu einem Sturm aus, und an eine Weiterfahrt war nicht zu denken. Er packte seinen Rucksack aus und steckte ein paar Kerzen an. Dann räumte er die feuchte Asche aus dem Kamin und prüfte den Abzug. Er funktionierte noch immer, nach all den Jahren. Dec stapelte die Reste eines zerbrochenen Stuhls über ein paar Grillanzündern und steckte sie an. Als sich im Raum allmählich Wärme ausbreitete, zog er seine klammen Ledersachen aus und tauschte sie gegen Jeans und einen dicken Pullover. Am Feuer trank er etwas Hühnersuppe aus einer Thermosflasche und versuchte, die Erinnerungen zu verdrängen, die immer wieder auf ihn einstürmten.
Nachdem er sich gestärkt hatte, raffte er sich auf, um das Haus zu erkunden.
Der weiße Lichtkegel seiner Taschenlampe hüpfte vor ihm auf und ab, als er die Treppe hinaufging. Der winzige Flur des Häuschens hatte nur zwei Türen. Eine stand einen Spaltbreit offen. Joel wusste noch, dass
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