Der Auftraggeber
Verhältnissen für ein Neugeborenes sorgen zu müssen, war ihm unerträglich. Er beschloß, die Stadt zu verlassen und aufs Land zu ziehen. Von seinen schwindenden Ersparnissen mietete er ein Landhaus in den Hügeln oberhalb von Aix-en-provence. Dort brachte Rachel im Januar 1943 ihren Sohn Isaac zur Welt.
Eine Woche später begannen die Deutschen und die französische Polizei die Juden zusammenzutreiben. Sie brauchten vier Wochen, um Rachel und Maurìce Halévy aufzuspüren. An einem Februarabend erschienen zwei SS-Führer von einem französischen Gendarmen begleitet in dem Landhaus. Sie ließen dem Ehepaar 20 Minuten Zeit, einen Koffer zu packen, der nicht schwerer als 30 Kilogramm sein durfte. Während die Deutschen und der Gendarm im Wohnzimmer warteten, erschienen die Nachbarn der Halévys an der Haustür.
»Mein Name ist Anne-Marie Delacroix«, sagte sie. »Die Halévys haben auf meinen Sohn aufgepaßt, weil ich in die Stadt mußte.«
Der Gendarm blätterte in seinen Unterlagen. In den Papieren stand, daß in diesem Haus nur zwei Juden lebten. Er rief die Halévys und sagte: »Diese Frau behauptet, der Kleine gehöre ihr. Stimmt das?«
»Ja, natürlich«, antwortete Maurìce Halévy geistesgegenwärtig und drückte Rachels Arm, bevor sie einen Laut von sich geben konnte. »Wir haben nur nachmittags auf ihn aufgepaßt.«
Der Gendarm starrte ihn ungläubig an, dann blätterte er nochmals in seinen Papieren. »Nehmen Sie Ihr Kind mit, und verschwinden Sie!« knurrte er die Nachbarin an. »Ich hätte gute Lust, Sie anzuzeigen, weil Sie ein französisches Kind diesen Drecksjuden überlassen haben.«
Zwei Monate später wurden Rachel und Maurice Halévy im KZ Sobibor ermordet. Nach der Befreiung nahm Anne-Marie Delacroix den kleinen Isaac nach Marseille in eine Synagoge mit und erzählte dem Rabbiner, was sich an jenem Abend in Aix-en-provence e reignet hatte. Der Rabbiner ließ ihr die Wahl, ob sie den Jungen zur Adoption durch eine jüdische Familie freigeben oder ihn selbst aufziehen wolle. Sie nahm ihn wieder mit nach Hause und zog ihn neben ihren katholischen Kindern im jüdischen Glauben auf. Im Jahr 1965 heiratete Isaac Halévy seine Verlobte Corinne aus Nîmes und bezog in Marseille das alte Haus seines Vaters in der Rue Sylvabelle. Drei Jahre später kam ihr erstes und einziges Kind zur Welt: ein Mädchen, dem sie den Namen Sarah gaben.
Michel Duval war der heißeste Modefotograf von ganz Paris. Alle Modeschöpfer und Magazinredakteure lagen ihm zu Füßen, weil seine Bilder eine ins Auge springende Aura gefährlicher Sexualität ausstrahlten. Jacqueline Delacroix hielt ihn für ein Schwein. Sie wußte, wie er diesen einzigartigen Effekt erzielte - er beschimpfte seine Modelle. Sie freute sich nicht darauf, mit ihm zu arbeiten.
Sie stieg aus dem Taxi und betrat das Apartmenthaus in der Rue St. Jacques, in dem Michel sein Atelier hatte. Oben wartete eine kleine Menschenmenge: Maskenbildnerin, Friseuse, Stylistin, ein Vertreter von Givenchy. Michel stand auf einer Leiter und stellte Scheinwerfer ein: gutaussehend, schulterlanges blondes Haar, raubkatzenartige Züge. Er trug eine schwarze Nappalederhose, die tief auf seinen schmalen Hüften saß, ein kariertes Hemd und einen lockeren Pullover. Er blinzelte Jacqueline zu, als sie hereinkam. »Nett, dich zu sehen, Michel«, sagte sie lächelnd.
»Heute machen wir tolle Aufnahmen, ja? Ich spür's schon jetzt.«
»Ich hoffe es auch.«
Sie ging in die Garderobe, zog sich aus und begutachtete ihr Spiegelbild mit professioneller Leidenschaftslosigkeit. Körperlich war sie eine hinreißende Erscheinung: groß, mit eleganten Armen und Beinen, schlanker Taille, blassem olivfarbenem Teint. Ihre Brüste waren ästhetisch vollkommen: fest, sanft gerundet, weder zu klein noch übermäßig groß. Die Fotografen waren immer von ihren Brüsten begeistert gewesen. Die meisten Modelle haßten es, in Unterwäsche zu posieren, aber Jacqueline hatte damit nie Probleme gehabt. Sie hatte immer mehr Angebote bekommen, als sie in ihrem Terminkalender unterbringen konnte.
Ihr Blick wanderte von ihrem Körper zu ihrem Gesicht. Sie hatte lockiges rabenschwarzes Haar, das sie schulterlang trug, pechschwarze Augen und eine lange schmale Nase. Ihre hohen Wangenknochen standen weit auseinander, ihre Kinnlinie war ebenmäßig, die Lippen waren voll. Sie war stolz auf die Tatsache, daß ihr Gesicht nie durch das Skalpell eines Chirurgen verändert worden war. Jetzt beugte sie
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