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Der Auftraggeber

Der Auftraggeber

Titel: Der Auftraggeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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sich leicht nach vorn und tastete die Haut um ihre Augen mit der Spitze eines Zeigefingers ab. Was sie sah, gefiel ihr nicht. Nicht richtige Falten, sondern etwas, das subtiler und heimtückischer war. Nicht recht erkennbare Alterungsspuren. Sie hatte nicht mehr die Augen eines jungen Mädchens, sondern die einer Frau von 33 Jahren.
    Du bist noch immer schön, Jacqueline, aber du mußt dich mit den Tatsachen abfinden: Du wirst alt.
    Sie zog einen weißen Bademantel an, ging nach nebenan und setzte sich vor den Spiegel. Die Maskenbildnerin begann mit einer Grundierung. Jacqueline beobachtete im Spiegel, wie ihr Gesicht allmählich in das einer Frau verwandelt wurde, die sie nicht recht erkannte. Sie fragte sich, was ihr Großvater zu dieser Verwandlung gesagt hätte.
    Vermutlich hätte er sich meiner geschämt…
    Als Maskenbildnerin und Friseuse mit ihrer Arbeit fertig waren, betrachtete Jacqueline sich erneut im Spiegel. Ohne den Mut dieser drei bemerkenswerten Menschen ihrer Großeltern und Anne-Marie Delacroix - wäre sie heute nicht hier gewesen.
    Und sieh dir an, was aus dir geworden ist - ein exquisiter Kleiderbügel.
    Sie stand auf und ging in die Garderobe zurück. Das Kleid ein trägerloses schwarzes Abendkleid - hing schon bereit. Sie legte den Bademantel ab, schlüpfte in das Abendkleid und zog es über ihre nackten Brüste hoch. Dann begutachtete sie sich im Spiegel. Umwerfend.
    Ein Klopfen an der Tür. »Michel ist soweit, Mademoiselle Delacroix.«
    »Sagen Sie Michel, daß ich gleich komme.«
    Mademoiselle Delacroix…
    Selbst nach all den Jahren war dieser Name noch immer ungewohnt: Jacqueline Delacroix. Ihr Agent Marcel Lambert hatte ihren Namen geändert -»Sarah Halévy klingt so… nun…du weißt, was ich meine, mon chou. Zwinge mich nicht dazu, es laut auszusprechen. So vulgär, aber das ist der Lauf der Welt.«
    Manchmal bekam sie vom Klang ihres französischen Namens eine Gänsehaut. Als sie erfuhr, was mit ihren Großeltern passiert war, hatte sie alle Franzosen brennend gehaßt und verdächtigt. Sah sie irgendwo einen alten Mann, fragte sie sich, was er im Krieg gemacht haben mochte. War er Wachmann in Gurs, Les Milles oder einem der anderen Internierungslager gewesen? War er der Gendarm gewesen, der den Deutschen geholfen hatte, ihre Großeltern abzutransportieren? War er ein Bürokrat gewesen, der den Papierkram des Todes bearbeitet und abgestempelt hatte? Oder hatte er nur schweigend dabeigestanden und nichts getan?
    Insgeheim war es für sie ein Quell großen Entzückens, daß sie die Modewelt hinters Licht führte. Sie stellte sich ihre Reaktion vor, wenn sie erführe, daß diese schlanke, schwarzhaarige Schönheit aus Marseille in Wirklichkeit eine provenzalische Jüdin war, deren Großeltern in Sobibor vergast worden waren. In gewisser Weise war ihre Arbeit als Model, als Verkörperung französischer Schönheit, ihre Rache.
    Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel, senkte ihr Kinn etwas, öffnete leicht die Lippen und ließ Feuer in ihre pechschwarzen Augen treten.
    Jetzt war sie bereit.
    Sie arbeiteten eine halbe Stunde lang ohne Pause. Jacqueline nahm eine Pose nach der anderen ein. Sie saß hingegossen auf einem schlichten Holzstuhl. Sie saß mit rückwärts abgestützten Händen halb liegend auf dem Fußboden und reckte den Kopf mit geschlossenen Augen hoch. Sie stand mit in die Hüften gestemmten Armen da und schien mit ihrem Blick Michels Kameraobjektiv durchbohren zu wollen. Michel gefiel anscheinend, was er sah. Sie harmonierten gut. Er machte alle paar Minuten einige Sekunden Pause, um den Film zu wechseln, und fotografierte dann sofort weiter. Jacqueline war lange genug Model gewesen, um zu wissen, wann Aufnahmen klappten.
    Deshalb war sie verblüfft, als Michel plötzlich von der Kamera zurücktrat und sich mit einer Hand durchs Haar fuhr. Er runzelte die Stirn. »Bitte das Atelier räumen. Ich brauche einen Augenblick Ruhe und Ungestörtheit.«
    Jacqueline dachte: O Gott, jetzt fängt das wieder an!
    »Was zum Teufel fehlt dir?« fragte Michel sie.
    »Mir fehlt nichts!«
    »Nichts? Du bist fade, Jacqueline. Die Aufnahmen sind fade. Ich könnte genausogut eine Kleiderpuppe fotografieren. Ich kann's mir nicht leisten, Givenchy einen Satz fader Aufnahmen zu liefern. Und soviel ich höre, kannst du dir das auch nicht leisten.«
    »Was soll das heißen?«
    »Das soll heißen, daß du alt wirst, Schätzchen. Das soll heißen, daß niemand mehr so richtig weiß, ob du noch

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