Der aufziehende Sturm
Schlucke.
Langsam dämmerte es Egwene. Bei diesem Essen ging es gar nicht darum, mit den Ajahs zusammenzuarbeiten. Elaida wollte die Sitzenden so lange unter Druck setzen, bis sie sich so verhielten, wie sie es ihrer Meinung nach sollten. Und Egwene war lediglich da, um als Trophäe vorgezeigt zu werden! Hier ging es nur darum, den anderen zu beweisen, welche Macht Elaida doch hatte - sie konnte jemanden nehmen, den andere zur Amyrlin gemacht hatten, sie in ein Novizinnengewand stecken und jeden Tag zur Buße schicken.
Wieder fühlte Egwene Zorn in sich aufsteigen. Warum schaffte es Elaida nur immer wieder, ihre Gefühle in Aufruhr zu bringen? Suppenteller wurden entfernt und Platten voll dampfender, gebutterter Karotten gebracht; ein Hauch von Zimt lag in der Luft. Sie hatte nicht zu Abend essen können, aber ihr war sowieso viel zu übel, um Hunger zu verspüren.
Nein, dachte sie und stählte sich. Ich werde das nicht vorzeitig beenden, nicht wie beim letzten Mal. Ich werde es aushalten. Ich bin stärker als sie. Ich bin stärker als ihr Wahnsinn.
Die Unterhaltung wurde fortgesetzt. Elaida traktierte die anderen mit beleidigenden Bemerkungen, manchmal mit Absicht, manchmal einfach auch nur so. Die anderen lenkten das Gespräch von den Rebellen auf den so seltsam bewölkten Himmel. Schließlich erwähnte Shevan das Gerücht, dass die Seanchaner tief im Süden mit Aiel zusammenarbeiten sollten.
»Schon wieder die Seanchaner?« Elaida seufzte. »Ihr müsst Euch um sie keine Sorgen machen.«
»Meine Quellen besagen da anderes, Mutter«, erwiderte Shevan steif. »Ich glaube, wir müssen genau aufpassen, was sie im Schilde führen. Ich habe das Kind hier von ein paar Schwestern über ihre Erfahrungen mit ihnen ausfragen lassen, die sehr umfassend waren. Ihr solltet die Dinge hören, die sie mit Aes Sedai anstellen.«
Elaida lachte hell und amüsiert. »Sicherlich wisst Ihr doch, wie gern das Kind übertreibt!« Sie warf Egwene einen Blick zu. »Habt Ihr für Euren Freund wieder Lügen verbreitet, diesen närrischen al'Thor? Was hat er Euch befohlen, über die Invasoren zu sagen? Sie arbeiten für ihn, oder etwa nicht?«
Egwene gab keine Antwort.
»Sprecht«, sagte Elaida und gestikulierte mit ihrem Pokal. »Sagt diesen Frauen, dass Ihr Lügen verbreitet habt. Gesteht, oder ich erlege Euch schon wieder eine Buße auf, Mädchen.«
Die Buße, die sie fürs Schweigen erhalten würde, würde Elaidas Zorn über ihren Widerspruch vorzuziehen sein. Schweigen war der Pfad zum Sieg.
Aber als Egwene den langen Mahagonitisch betrachtete, der mit weißem Meervolk-Porzellan und flackernden roten Kerzen gedeckt war, entdeckte sie fünf Augenpaare, die sie musterten. Sie konnte ihre Fragen deutlich sehen. Allein und unter vier Augen hatte sie mutig zu ihnen gesprochen, aber würde sie ihre Behauptungen in Gegenwart der mächtigsten Frau auf der Welt aufrechterhalten? Eine Frau, die ihr Leben in der Hand hielt?
War sie die Amyrlin? Oder war sie bloß ein Mädchen, das sich für sie ausgab?
Das Licht soll dich verbrennen, Elaida, dachte sie und erkannte zähneknirschend, dass sie sich geirrt hatte. Schweigen würde nicht zum Sieg führen, nicht in Gegenwart dieser Frauen. Dir wird nicht gefallen, wie das hier weitergeht.
»Die Seanchaner arbeiten nicht für Rand«, sagte sie dann. »Und sie bedeuten eine ernste Gefahr für die Weiße Burg. Ich habe keine Lügen verbreitet. Etwas anderes zu behaupten würde die Drei Eide verletzen.«
»Ihr habt die Drei Eide nicht abgelegt«, sagte Elaida streng und wandte sich ihr zu.
»Das habe ich sehr wohl«, erwiderte Egwene. »Ich habe keinen Eidstab gehalten, aber es ist nicht der Stab, der meine Worte wahr macht. Die Worte des Eides habe ich in meinem Herzen gesprochen, und für mich sind sie darum viel teurer, denn ich habe nichts, das mich dazu zwingt, mich daran zu halten. Und bei diesem Eid, der mich leitet, sage ich Euch erneut, dass ich eine Träumerin bin, und ich habe Geträumt, dass die Seanchaner die Weiße Burg angreifen werden.«
In Elaidas Augen blitzte es kurz auf, und sie umklammerte ihre Gabel so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Egwene erwiderte ihren Blick, und schließlich lachte Elaida. »Ah, ich sehe schon, so stur wie eh und je. Ich werde Katerine sagen müssen, dass sie recht hatte. Ihr werdet für Eure Übertreibungen Buße tun, Kind.«
»Diese Frauen wissen, dass ich nicht lüge«, sagte Egwene beherrscht. »Und jedes Mal, wenn Ihr darauf
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