Der aufziehende Sturm
das gepuderte weiße Haar des Scheitels war bis zu seinen Schultern geflochten, denn er gehörte dem Hohen Blut an. Begleitet wurde er von zwei Angehörigen des Niederen Blutes - Bannergeneral Najirah und Bannergeneral Yamada - sowie mehreren nichtadligen Offizieren. Sie warteten geduldig und achteten peinlich genau darauf, Tuons Blick nicht zu erwidern.
Mehrere Schritte hinter ihnen stand eine Versammlung anderer Angehöriger des Blutes, um ihre Entscheidungen zu bezeugen. Der drahtige Faverde Nothish und der langgesichtige Amenar Shumada führten sie an. Beide waren wichtige Männer - wichtig genug, um gefährlich zu sein. Suroth würde nicht die Einzige gewesen sein, die diese Zeiten als Gelegenheit betrachtet hatte. Sollte Tuon sterben, könnte praktisch jede Kaiserin werden. Oder jeder Kaiser.
Der Krieg in Seanchan würde nicht schnell enden; aber wenn es so weit war, würde sich der Sieger zweifellos auf den Kristallthron setzen. Und dann würde das seanchanische Kaiserreich zwei Führer haben, getrennt durch einen Ozean, vereint vom Verlangen, den anderen zu besiegen. Keiner von ihnen konnte es sich erlauben, den anderen am Leben zu lassen.
Ordnung, dachte Tuon und tippte mit einem blau lackierten Fingernagel auf das schwarze Holz ihrer Stuhllehne. Ordnung muss aus mir heraus entstehen. Ich werde den vom Sturm Heimgesuchten eine ruhige Brise bringen.
»Selucia ist meine Wahrheitssprecherin«, verkündete sie dem Raum. »Lasst es unter dem Blut verbreiten.«
Die Ankündigung kam erwartet. Selucia neigte zustimmend den Kopf, obwohl sie keine andere Aufgabe wünschte, als Tuon zu dienen und zu beschützen. Sie würde diese Position nicht willkommen heißen. Aber sie war auch ehrlich und geradlinig; sie würde eine ausgezeichnete Wahrheitssprecherin abgeben.
Und wenigstens dieses Mal konnte Tuon sicher sein, dass ihre Wahrheitssprecherin keine der Verlorenen war.
Dann glaubte sie also Falendres Geschichte? Ihre Aussage war nicht besonders glaubhaft; sie klang wie eine von Matrims fantasievollen Geschichten von Fabelwesen, die im Dunkeln lauerten. Und doch hatten die anderen Sul'dam und Damane Falendres Geschichte bestätigt.
Immerhin erschienen einige der Fakten eindeutig. Anath hatte mit Suroth zusammengearbeitet. Suroth hatte - mit etwas Nachhilfe - zugegeben, dass sie sich mit einer der Verlorenen getroffen hatte. Oder zumindest glaubte sie das. Sie hatte nicht gewusst, dass es sich bei der Verlorenen um Anath handelte, aber sie schien die Enthüllung für glaubwürdig zu halten.
Ob Anath nun wirklich eine der Verlorenen war oder nicht, sie hatte Tuon verkörpert und sich mit dem Wiedergeborenen Drachen getroffen. Und dann hatte sie versucht, ihn zu töten. Ordnung, dachte Tuon und hielt ihre Miene reglos. Ich repräsentiere die Ordnung.
Sie sandte Selucia, die trotz der zusätzlichen Verantwortung als Wahrheitssprecherin noch immer ihre Stimme war - und ihr Schatten - ein paar Handzeichen. Wenn sie mit jenen sprach, die so tief unter ihr standen, musste sie die Worte zuerst Selucia übermitteln, die sie dann laut aussprach.
»Dir wird befohlen, ihn hereinzuschicken«, sagte Selucia zu einem Da'covale neben dem Thron. Er verbeugte sich tief, berührte mit dem Kopf den Boden, dann eilte er ans andere Ende des großen Raumes und öffnete die Tür.
Beslan, König von Altara und Hoher Herr von Haus Mitsobar, war ein schlanker Jüngling mit schwarzen Augen und Haar. Er hatte die olivfarbene Hautfarbe der Altaraner, aber er hatte angefangen, die vom Blut bevorzugte Kleidung zu tragen. Locker fallende gelbe Hosen und einen Mantel mit hohem Kragen, der vorn nur bis zur Mitte der Brust reichte, darunter ein gelbes Hemd. Das Blut hatte einen deutlichen Durchgang in der Mitte des Raumes gelassen, und Beslan ging mit nach unten gerichtetem Blick hindurch. Als er den Platz für das Bittgesuch vor dem Thron erreichte, ging er auf die Knie und verbeugte sich tief. Das perfekte Bild eines loyalen Untertans. Abgesehen von der dünnen Goldkrone auf seinem Haupt.
Tuon gestikulierte Selucia.
»Ihr werdet gebeten aufzustehen«, sagte Selucia.
Beslan erhob sich, hielt den Blick aber weiter abgewandt. Er war ein guter Schauspieler.
»Die Tochter der Neun Monde bringt ihr Beileid für Euren Verlust zum Ausdruck«, fuhr Selucia fort.
»Ich wünsche Ihr das Gleiche wegen Ihres Verlusts. Meine Trauer ist nur eine Kerze verglichen mit dem großen Feuer, das das seanchanische Volk verspürt.«
Er war zu unterwürfig. Er
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