Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
folgt, ein Ausdruck vollkommener Harmonie. Näher
    kann man einander nicht sein als in dieser wunderbaren
    Wüste gemeinsam erworbenen Schweigens.
    Es war die Besucherin, die verfügte, daß er jetzt und wie er
    jetzt über Anna nachdachte. Wäre doch Anna ein wenig
    weniger lieb. Er merkte, daß er, wenn er, was vom Liebsein
    handelte, hochkommen ließ, schnell bei einem Generalver‐
    dacht landen würde. Wollte er etwas gegen Anna empfin‐
    den, intonierte er diesen Generalverdacht: Anna will nichts von dir, sie will nur, daß du etwas von ihr willst. Wurde aber
    in vorstellbarer Nähe ein Kind ermordet, durfte Ge‐
    schlechtliches eine Schonzeit lang überhaupt nicht mehr
    vorkommen. Das war seine auf Klage oder Anklage ge‐
    trimmte Vorwurfsroutine, gegen die Anna sich nicht ver‐
    teidigen konnte, weil er ihr diese öfter in ihm ablaufende Vorwurfsplatte niemals vorgespielt hatte und wahrscheinlich
    niemals vorspielen würde. Die Platte lief. Und es war die Besucherin, die die Platte zum Laufen gebracht hatte.
    Es ist nicht ausgeschlossen, daß Anna es neben einem
    aushielte, ohne einen zu berühren. Und wenn sieʹs dann tut,
    dann vielleicht nur, weil sie glaubt, der andere wolle es. Sie
    will einem etwas zuliebe tun. Sie will einem alles zuliebe tun.
    Sie ist unerschöpflich unermüdlich im Einemetwaszuliebe‐
    tun. Manchmal zöge man es vor, sie dächte mehr an sich.
    Fuhr er achtlos in eine Parklücke hinein, sagte, sobald er ausgestiegen war, Anna: Wenn du deutlicher links einparkst,
    hat noch einer Platz. Sie war andauernd humaner als er. Sie

    11
    fühlte sich ihm wahrscheinlich überlegen. Das kann in ihr die Stimmung erzeugt haben, er müsse ihr für das
    lebenslängliche Bei‐ihm‐Bleiben dankbar sein. Es tat sicher gut zu wissen, daß er ihr immer ein bißchen oder mehr als ein bißchen schuldig blieb und für das, was er ihr schuldig blieb, dankbar zu sein hatte.
    Gottlieb hatte serviert: Kaffee und Calvados für Anna, für die Besucherin und für ihn Tee. Und Apfelkuchen für alle.
    Daß er den Apfelkuchen heute vormittag selber gebacken
    hatte, sagte er mit dem gespielten Stolz, mit dem Männer auf
    ihre Küchenverdienste hinzuweisen haben. Und da sie ja aus
    dem Apple‐Pie‐Country kam, also vielleicht nicht wußte,
    was sie auf dem Teller hatte, sagte er, ganz ohne Nachdruck,
    noch dazu, daß es sich um eine Tarte Tatin handle, er
    serviere die aber heute, ohne sie gestürzt zu haben. Und warum heute nicht gestürzt, fragte sie. Genau so mußte sie reagieren, fand er, spürte er. Er wies auf die wellige, ganz glatte, kahle, hellfahle Oberfläche in der weißen Form, sagte
    aber nichts. Sie sagte: Wie eine freundliche Mondlandschaft.
    Ja, sagte er und nickte bedeutungsvoll, gestürzt, sähen wir jetzt die nassen Apfelinnereien. Und fing an auszuteilen.
    Daß Anna deine Decknamen nicht mehr weiß, muß dich
    nicht beleidigen. Die Namen, unter denen du versucht hast,
    auf dich aufmerksam zu machen, hast du Anna gegenüber
    nie wichtig werden lassen. Wenn du als Andreas Schwarz‐
    kopf ein bekannter Feuerbach‐Experte oder als Jost Jordan ein anerkannter Rousseau‐Kenner oder eben als Wendelin
    Krall ein renommierter La Mettrie‐Forscher geworden wärst,
    hättest du dich Anna nur zu gern als Schwarzkopf‐Jordan‐
    Krall präsentiert. Da aber keinerlei Aufsehen geschah,

    12
    konntest du froh sein, daß auch Anna gnädig vergaß, was du
    unter deinen Decknamen getrieben hast.
    Als er mit der zweiten Kanne Tee zurückkam, sagte die
    Besucherin, wie Frau Zürn ihren Calvados trinke, sei an‐
    steckend, also widerrufe sie ihre vorschnelle Ablehnung
    allen Alkohols, sie sei jetzt, falls das Angebot noch gelte, ganz scharf auf Calvados. Dafür sei sie da, sagte Anna und holte eine nächste Flasche. Und Sie, Herr Doktor, sagte die Besucherin. Zürn reicht, sagte Gottlieb. Mein Mann trinkt nicht mehr, sagte Anna. Gottlieb nickte so, als wolle er ein Schicksal andeuten, über das man ihn besser nicht befrage.
    Man muß ja in jedem Augenblick etwas zu vermuten geben,
    was einen interessanter wirken läßt, als man sich fühlt. In ihm klang nach, daß die Besucherin gesagt hatte, jetzt sei sie
    ganz scharf. Wie sie das gesagt hatte. Sie hatte ohnehin einen
    blühenden Mund. Auch durch genaues Schminken eigentlich
    nicht fassbar, dieser Mund. Unflätig eigentlich, dieser Mund.
    Ein Kinder‐ oder gar Babymund. Gerade von der Mutter‐
    brust kommend. Und scharf hatte sie mit mehreren f

Weitere Kostenlose Bücher