Der Augenblick der Liebe
übersetzen sei das nicht. Aber dann soll manʹs doch lieber lassen. Es war Rosenne, der sie auf Wendelin Krall brachte, auf seine zwei Aufsätze. Als sie Vor Rousseau war La Mettrie gelesen hat, hat sie gewußt, daß sie diesen Wendelin Krall einmal sehen möchte. Und dann Alles eins.
Da sind dem Wunsch Flügel gewachsen. Der Akzente ‐
Redaktion hat sie abgerungen, wer dieser im Internet
gefundene Wendelin Krall wirklich ist. Immerhin ist es
fünfzehn Jahre her, seit die zwei Aufsätze erschienen sind.
Beide im selben Jahr, und dann nichts mehr. Warum dann
nichts mehr? Das fragt auch Glen O. Rosenne. Hat Wendelin
Krall weiter geforscht über La Mettrie und in Deutschland niemanden mehr gefunden, der sich dafür interessierte? Ihre
Arbeit wird wahrscheinlich drei Stadien beschreiben: erstens
Hegel, zweitens Marx und der Materialismusstreit auf der
Göttinger Naturforscherversammlung, 1854, Lichtblick Karl
Vogt mit seinem Buch Köhlerglaube und Wissenschaft, dann die Verfinsterung durch den Neukantianismus. Drittens: die
sogenannte Gegenwart, zu der dann auch Wendelin Krall
zählt.
Er hätte der Besucherin gern gesagt, wie großartig er es finde, daß seine Frau einfach aufgestanden und gegangen
sei. Eine Protokollierung. In Pfullendorf. Ihren Mann kann sie ruhig bei einer zirka vierzig Jahre jüngeren Besucherin 16
aus North Carolina sitzen lassen. Schon an solche Zahlen zu
denken, ist ... ist ... ist beleidigend.
Die aus dem zweiten Stock von Caldwell Hall hängende
rötliche Kunststoffröhre mit der deutlichen Schlußwölbung
hat Anna gar nicht mitgekriegt. Er hatte Anna im Blickfeld.
Annas große Augen verrieten fast nie, was hinter diesen
Augen vorging. Diese Augen sind zu groß, vielleicht auch zu
tief. Annas Augen sind wie ein Meer, das zu groß ist für Stürme. Auf jeden Fall sind sie nicht zu bewegen durch
grelle Nachrichten über eine Caldwell Hall in North
Carolina. Wahrscheinlich entwarf Anna, während die
Besucherin sprach, den Vorvertrag für eine Villa mit Seeblick
in Nonnenhorn. Die Besucherin wollte mit ihrer Caldwell
Hall‐Anzüglichkeit wahrscheinlich nur Freimut beweisen.
Zur Lockerung des beginnenden Gesprächs. Gottlieb konnte
sich nicht hindern zu denken: Sie hat einen unanständigen Mund. Das wird man ja wohl noch denken dürfen. Er hörte
ihr zu, sagte auch mal etwas Zustimmendes, dachte aber
immer wieder an Gabriele, die vor ein paar Tagen angerufen
hatte, und wie immer hatte sie gesagt: Moment, ich muß das
Fenster schließen, du sprichst so leise. Dann hatten sie weitertelephoniert. Mehr als einmal im Jahr telephonierten sie inzwischen nicht mehr. Und jedes Mal war es Gabriele, die anrief. Und jedes Mal hatte sie einen sogenannten Grund.
Diesmal war es ihr Entschluß gewesen, nicht mehr Gabriele
zu heißen, sondern Gabriela. Sie könne, hatte sie gesagt, nicht mehr begreifen, daß sie es so lange ausgehalten habe, als Gabriele herumzulaufen. Und übermorgen sei, bitte, ihr und sein La Mettrie‐Gedenktag.
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Inzwischen sind es fünfzehn Jahre her, daß sie Gottliebs Aufsatz Vor Rousseau war La Mettrie gelesen hatte. Und nichts, was sie je gelesen hat, sagte sie jedes Mal, habe ihr Leben so verändert wie dieser Aufsatz. Weniger wegen
Gottlieb als wegen La Mettrie. Sechzehnmal hatte sie ihn damals in acht Tagen angerufen. Die Theologiestudentin in Tübingen. Dann folgte Alles eins. Diesen Aufsatz hätte er vielleicht gar nicht geschrieben ohne das Zustimmungs-vibrato der Theologiestudentin.
Nur durch die Natur begreifen wir den Sinn der Wörter des Evangeliums, dessen wahrer Interpret ganz allein die Erfahrung ist.
Das war der La Mettrie‐Satz, der zu ihrem Tag‐ und
Nachtgebet wurde, wenn sie neben einander oder auf ein‐
ander lagen, er zwanzig Jahre älter, gerade noch in Frage kommend, vielleicht schon nicht mehr, aber vielleicht doch noch, weil sie diesen Leben spendenden Textstrom hatten.
Daß man den Sinn des Evangeliumstextes nur durch die
Natur entdecken kann, hatte die Tübinger Theologie noch
nicht gemerkt.
Die Theologie wurde ihr fremd. Also zur Kirchenmusik.
Das war dem Vater, Pastor auf der Ostalb, gerade noch recht.
Aber nirgends ist die Konkurrenz so brutal wie in der Musik.
Ihr Professor in Stuttgart mußte eine Psychotherapie durch-laufen, so verletzte es ihn, wenn er fabelhaft und fehlerfrei spielende Bewerber ablehnen mußte, weil kein Platz mehr
frei war. Aber Gabriele schaffte alles. Nur die Praxis
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