Der Augenblick der Liebe
wie sie jetzt hier saß: hellrosa Jogginghosen (in denen noch nicht ein einziges Mal gejoggt wurde) und hell-grünes Sweatshirt. Glen O. Rosenne, der ihr letzte Woche La
Mettrie in der Fayard‐Ausgabe vorbeibrachte, sagte ganz
munter, in diesem Schlafanzug müsse sie von himmlischen
Limonaden träumen. Aber 27 Aufsätze ihrer Literaturklasse
warten auf ihrem Schreibtisch darauf, von ihr gelesen UND
benotet zu werden. Schreibtisch! Um überhaupt transat‐
lantisch vorstellbar zu werden, muß sie doch mitteilen, daß ihr Schreibtisch eine alte Tür ist (von ihr im Trödelmarkt gekauft, dann, von ihr, blau gestrichen), auf zwei Holzböcke
gelegt, wie sie in Malerwerkstätten vorkommen. Schrecklich,
wie wichtig es einem ist, daß der andere (the other) sich vorstellen kann, wie man leibt und lebt. (Mehr leibt als lebt).
Am schwersten waren tatsächlich Anfang und Ende. Bei
Briefen! Oder überhaupt. Im Augenblick ganz und gar der Unwirklichkeit hörig, schrieb ihr German Other seelenruhig hin. Schriebe das die Empfängerin, versagte ihr bei hörig die Hand. Auch hätte sie vielleicht das Gefühl, sie habe sich mit
so einem Satz bei Nacht in einen Urwald gestoßen. In einen
tropischen dazu. Gemalt aber vom Zöllner Rousseau. Von ih‐
rer gemalten Nacktheit sieht man hauptsächlich die Füße.
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Die streckt sie dem Beobachter entgegen. Sie ist überhaupt stolz auf ihre Füße. Sie kann sich nicht sattsehen an ihren Nägelhalbmonden. Die hat sie angepinselt. Rubinrot. Rot-röter‐am‐rotesten. Ach, Deutsch, diese Sprache, in der mehr verboten als erlaubt ist!
Daß die Mutter ihre zwei Sittiche immer noch bei der
Tochter deponieren muß, wenn sie mit ihrem Mann in Fort Lauderdale, Florida, Urlaub verleben will, zeigte der
Tochter, wie wenig die Eltern in Amerika angekommen sind.
In diesem Land, in dem alles Menschliche sich zuerst einmal
als Nachbarschaft auslebt! Wenn sie die zwei Schnäbel in Pflege nahm, mußte sie einerseits so tun, als sei sie glücklich, Hansel und Gretel endlich wieder beherbergen zu dürfen,
andererseits durfte aus ihrem Glück nicht zu schließen sein,
sie sei einsam und deshalb sittichfroh. Eine einsame Tochter
in Chapel Hill, das würde dem Sittichpaar in Fort
Lauderdale die Urlaubsmelodie verstimmen. Es ist doch
schön, wenn zwischen Eltern und Kindern alles bis ins
Feinstkleinste geregelt ist, ohne daß das je formuliert werden
muß. Das sind die zwingendsten Verträge, die gelten, ohne geschlossen werden zu müssen. Zuerst streiften Mutter und
Tochter durch Antiquariate. Für fünfzig Dollar sechs Bücher:
Lessing (1824), König Ödipus (1785), Cicero über die
Pflichten (1784), Diderot (1774), Rousseau (1789), Holbach (1776). Dafür mußte die Tochter mit in die Antique Stores.
Die Mutter ist nicht mehr scharf auf Meißen, sondern auf die
schüsselartigen Teller aus der Mingdynastie. Die Entzük‐
kenslaute der Mutter! Nirgends sei soviel aus der Ming‐
dynastie hängen geblieben wie in North Carolina,
zwitscherte sie, wenn wieder eine Schale erobert war. Daß 66
antique heißt, was es heißt, weiß die Mutter, daß aber antic soviel wie grotesk heißt, weiß die Mutter nicht. Daß Beate J.
ihrer Madelon die Eltern vorenthielt, nahm sie sich übel.
Über ihr German Other wußte Madelon inzwischen mehr als
Beate J. selber. Madelon arbeitete alles, was sie erfuhr, in ein Kolossalgemälde ein. Beate J. war, was den Terrassen-menschen anging, jähen Wettern − ist gleich Lichtwechseln −
ausgesetzt. Mal hatte sie alles übernah und scharf und wie unverlierbar, dann war gleich wieder nichts mehr greifbar, alles ganz ungewiß. Madelon illustrierte Beate J. und
Gottlieb Wendelin inzwischen als Freud und Dora. Sie malte,
wenn sie mit Beate unter Chapel Hills gewaltigen Bäumen
promenierte, eine historische Szene mit acht Figuren, nur geschaffen zur gegenseitigen Beleuchtung im Dienste der
Erkenntnis. Da sind dann: der Freud der Hysterie‐Schrift
und der wirkliche Freud (den Madelon aus allen biogra‐
phischen Schlupfwinkeln, in die er sich verkrochen hat,
herausholt); Gottlieb Zürn, Germany, ein leidenschaftlicher Verundeutlicher, der an allem, was er verundeutlicht, keinen
Zweifel läßt, und Wendelin Krall, der leidenschaftlich darauf
besteht, ein rückhaltloser La Mettrist, also ein Verdeutlicher zu sein; Beate J., Chapel Hill, auf der Suche nach einer Rolle,
die weniger anstrengend ist als ihre bisherigen Rollen, und Juliette, die sich
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