Der Augenblick der Liebe
verdankt sie mehr als jedem anderen
Menschen. Gert Laubenthal hat sich nach Philadelphia
beworben. Das fand sie dankenswert. Dort ist er angenom‐
men worden. Tenure. Telephoniert wird nicht mehr. Das
alles hat Madelon noch vor sich. Madelon kennt jede Drecks‐
sekunde, die ihre Freundin durchzustehen hatte. Aber sie
weiß natürlich, daß ihr so etwas nicht passieren kann.
Zuerst hielt Beate das Überseerauschen für die Ankün‐
digung eines Bettina‐Anrufs. Bettinas ostwestfälischer
Samenhändler war dabei, sich umzuschulen auf Program‐
mierer. Aber es war der Terrassenmensch mit den unbe‐
nutzbaren Namen. Und der rutschte einmal sogar ins Du.
Einen Freudian slip konnte sie das nicht nennen. Ihr blieb die
Spucke weg. Wie anders sollte sie sich denn diese jähe
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Mundtrockenheit erklären! Der Herr dort an der Strippe
kriegte sich auch gleich wieder ein − so würde sich ihre deutlich flottere Schwester ausdrücken − und brachte einen Selbstverhinderungstext zustande, der ihr durch und durch
ging. Er sagte ihr, daß er ihr nichts sagen könne. Aber daß er
ihr nichts sagen könne, müsse er ihr doch sagen. Und legte auf und ließ das Überseerauschen über ihr zusammen-schlagen.
Die Sinne sind seine Philosophen, heißt es bei ihrem
Patron. Sie malte sich die zwei Buchstaben auf ein Blatt. DU.
Und ließ diese Buchstaben auf ihre Sinne wirken. Spielte sich
das gehörte DU zu, während sie das gemalte DU ansah und
überließ sich der Flut; wie sonst sollte sie die Wucht nennen,
die jetzt am Zunehmen war. Am liebsten hätte sie jetzt
Bettina angerufen und sich in diesem Zustand ihr ausgesetzt,
nein, präsentiert. Als Frischgeduzte! Krieg dich ein, Schwes‐
terchen, würde Bettina sagen. Beate dachte bei manchen
Bettina‐Sätzen, daß es die, als sie noch drüben gewesen war,
noch nicht gegeben hatte. Ihm, dem Herrn auf der Terrasse,
müßte sie sagen können, daß sie Erkenntnis schöpfe aus dem
puren DU. Aber sie konnte dort nicht anrufen. Die ganz
gewöhnliche Machtstruktur. Sie müßte, wenn Frau Anna
oder gar, gerade hereingeschneit, Regina, Julia, Magda oder
Rosa am Apparat wäre, schlicht vergehen vor Verlegenheit.
Ihm sagen und Herrn Rosenne sagen und dem eifersprü‐
henden Rick Hardy sagen, daß man mehr, als La Mettrie
erkannt hat, nicht erkennen kann, jetzt und immerdar. Leider
müßte sie das nicht sagen, sondern beweisen. Die Äußer‐
lichkeit der Buchstaben und die Erfahrung, die sie in ihr bewirkten.
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Alles eins hat schon vor fünfzehn Jahren ihr Terrassenmensch geschrieben. Wer einmal das Richtige berührt hat,
kann nicht mehr überholt werden. Als der Patron erkannte, wie lʹimagination von lʹexpérience bestimmt ist, hat er die Durchgängigkeit des Bewußtseins, des Denkens, des
Daseins, die Unteilbarkeit überhaupt erfahren. Dieses DU
macht vor nichts halt, reicht überall hin, ist eine Quelle uner‐
schöpflicher Erfahrung. Sie sieht das Buchstabenpaar DU
und weiß, daß sie gemeint ist, und es bewegt sie, wie noch nie etwas sie bewegt hat. Zwei Buchstaben, eine optische Figur, und sie flutet, schwillt, blüht, kippt ... Das hat viel mehr mit ihr zu tun als mit diesem Herrn Zürn‐Krall. Julien
Offray de La Mettrie kennt sie besser als dieser deutsche Geheimrat. Statt nachzuzählen, wie und wie oft La Mettrie in
Deutschland verstanden und mißverstanden worden ist,
möchte sie jetzt nachweisen können, daß man mehr, als er erkannte (per lʹexpérience und lʹimagination), auch in der Zwischenzeit nicht erkannt hat. Höchstens weniger. Es gibt (zum Glück) auch Rückschritte. Sonst gäbe es ja keinen
Fortschritt.
... pourquoi diviser le Principe sensitif qui pense dans lʹHomme?
Denn etwas, was man geteilt hat, kann nie mehr ohne
Krampf als unteilbar erlebt werden. Sagt der Patron. Und trotzdem reden auch die Gescheitesten von Materie, Geist, Stoff, Seele usw., als gäbe es zweierlei. Der Krall‐Aufsatz Alles eins wurde nicht gelesen. Alles geht immer so weiter.
Aber, sagt Julien, es sprechen die Wälder, die Echos seufzen, die Steine weinen, der Marmor atmet, ja, tout prend vie parmi les corps inanimés. Unterschiede gibt es nur durch den Organisationsgrad. Stimmtʹs? Der Organisationsgrad (der
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Materie) ist der einzige Unterschied zwischen Wurm und
Hund und Mensch und so weiter. Der schimpfende Lessing.
Porneutik will er La Mettries Lebenskunst genannt wissen.
Vielleicht das erste Mal, daß ein Sittenbeobachter
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