Der Augenblick der Liebe
über‐
haupt etwas? Oder war überhaupt alles nichts? Sein Türöff‐
nen, Tarte Tatm, sein Cordhemd, hellblau, ihr allzu mäd‐
chenhaft geblümtes Kleid, die pünktlichen, nur zu zweit
möglichen Schwäne, die souverän gütige Frau in dunkelst
blauer Bluse und ebenso dunklen Hosen, die allerdings mit 72
strichhaft dünnen weißen Streifen auf den Seiten, seine
letzten Endes gekonnt wirkende Verlegenheit, diese trick‐
reiche Verabschiedung am schrill kreischenden Tor, sein an ihr Auf‐ und Abblicken, dieser sicher nicht zum ersten Mal diensttuende Schmerz im Gesicht, ihr seinem Blick Nicht-Standhalten ... Diana Ross war inzwischen bei You keep me hanging on. Set me free, why donʹt you, babe.
Dann hatte sie endlich etwas zu melden, das dem von
Routine bedrohten Hin und Her zu neuem Schein verhelfen
konnte. Der Professor beruft einen La Mettrie‐Kongreß ein.
Und weil er so gute Beziehungen hat zu Berkeley und weil die noch etwas zu seinem Sechzigsten tun wollen, soll der Kongreß dort stattfinden. Themire Beate J. Gutbrod wurde
sogar die Liste der Einzuladenden vorgelegt, daß sie sie mit
europäischen Namen füttere. Hat sie getan. Für März
nächsten Jahres sollen sich bereithalten Timo Kaitaro,
Helsinki, Mariana Saad, Paris, Eckhard Höfner, Frank‐
furt/Oder, Ursula Pia Jauch, Zürich, und Wendelin Krall,
falls er will. Der Professor: Dann muß er aber etwas Neues bringen, die zwei Altessays tunʹs nicht. Die Diensttuende, unterwürfig: Klar. Und dazu dann hochstaplerisch: Das wird
er, er hat nicht aufgehört, La Mettrie ist, wie sie bei ihrem Kurzbesuch bemerkt hat, immer noch ein Tag‐ und Nacht-thema. Der Professor: Und Bernd A. Laska und Sandra Pott?
Der Professor mußte immer beweisen, daß er der Belesenste
war. Sie würde also weiterwühlen. Daß sie Bernd A. Laska, falls er erreichbar war, nicht selber auf die Liste gesetzt hatte, nahm sie sich übel. Und wenn jetzt dieser Wendelin Krall auch noch schnöde ablehnend reagierte, dann stand sie da, vorlaut, unsolide, uneffektiv, blamiert. Mr. Rosenne konnte 73
auf vernichtende Art freundlich sein. Und Patricia Best war im Abteilungsalltag nur halb so präsent wie Rosenne. Patricia Best fährt jeden zweiten Tag nach York hinunter, Leo versorgen, Gebrauchsgrafiker, dreimal operiert, Grafik geht nicht mehr, legt jetzt eine musikologische Bibliothek an am Computer und webt am Webstuhl Teppiche, alte indianische
Muster, die er vor dem Verschwinden retten will; ein Lun-genemphysem hat er auch; bei ihm raucht sie nicht; wenn sie
melden kann, daß Leo die Gehhilfe schrittweise entbehren
kann, umarmt sie Beate so heftig, wie es ihr Busen zuläßt.
Seit dieser Märztermin aufgetaucht ist, fühlt sie, wie sie zunimmt, überhaupt nicht an Gewicht, sondern an Kraft,
Bestimmtheit, Zukunft, ja, sie spürt, wie sie förmlich hin-einragt in die Zukunft. Noch nie hat sie so deutlich gespürt,
daß ihr doch etwas bevorsteht. Bisher hat sie alle Zeitbe-nennungen zu vermeiden versucht. Ins Vage hineingehofft
auf ein unfaßbares Irgendwann. Und jetzt, konkret: März. Sie
wird dem Kalender die Tage und Wochen abluchsen.
Gottlieb und sie werden einen Brief‐ und Telephonwinter
veranstalten, der durch seine genaue Berichtetheit und
Bemessenheit zum spannendschönsten Vorspiel der Welt
werden wird.
Sie eilte den Möglichkeiten voraus. Sie konnte sich (wieder
einmal) nicht vernünftig fassen. Jetzt schrieb sieʹs zuerst einmal nach Germany. Deutete eine Art Erwartungsvibrato
an. Schön wärʹs ja. Nicht wahr! Aber wennʹs nicht geht, bitte.
Sie überlebtʹs. Wenn auch ungern.
Und täglich pfuschte ihr die Angst vor der nächsten Be‐
gegnung mit Rick Hardy in ihre Vormärzstimmung. Dabei
spürte sie, daß der Mensch in Deutschland ihr jetzt als Stärke
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diente. So oft sie sich gegen Hardyerscheinungen behaupten
mußte, spürte sie, daß sie in jeder Sekunde hinüberdenken konnte, auf die Terrasse, zum hellsten Blau der Welt. Sie konnte sich sogar hinsetzen, den Rick‐Vorfall aufschreiben, das Aufgeschriebene Glen O. Rosenne überreichen, ihn
bitten zu entscheiden, wie zu verfahren sei. Für sie sei durch
das Aufschreiben und Überreichen des Aufgeschriebenen
das getan, was sie habe tun müssen. Von ihr aus müsse
weiter nichts geschehen. Aber das zu entscheiden, sei sie nicht fähig. Deshalb komme sie zu ihm. Dr. Douglas hatte sie
noch nicht sagen können, was passiert war. Sie würde es ihm
sagen, klar. Aber wie?
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