Der Augenblick der Liebe
Mensch bestellt eine Ware, ohne nach dem Preis
zu fragen. Jetzt kann er verlangen, was er will. Sie war laut geworden, er erinnerte sie daran, daß sie einmal gesagt hatte,
ihr mache es nichts aus, angeschrieen zu werden, aber so angeschrieen zu werden, daß es die Nachbarn hörten, ertrage
sie nicht. Darauf sie: So laut sei sie nicht gewesen. Einen so laut anschreien, daß die Nachbarn es hörten, das schaffe nur
er.
Als sie abends auf der Terrasse saßen und Gottlieb einen Karton ins Kaminfeuer warf, protestierte sie. Warum? Karton
gibt eine andere Asche. Na und? Sie: Die fliegt herum beim
leisesten Windhauch. Gottlieb mußte sagen, daß aber kein
Windhauch zu spüren sei. Dann beherrschten sich beide.
Im Bett lud er Anna ein, mit ihm die Annehmlichkeit des Erlaubten zu feiern, die Wärme der Legitimität, die Unverschämtheit des Aufeinanderangewiesenseins, die Erweck‐
barkeit alles gemeinsam Gehabten, die Fülle der Erinnerung
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als ein Schutz und Schirm gegen alle Gemeinheiten der
Gegenwart. Ein nichts auslassendes Gefühl. Wie immer,
wenn mehr als Wiederholung gefragt ist, spielte Wieder‐
holung eine große Rolle. Anna würzte mit Details. Ihre
Paradegeschichte, der Herr der fünf Ausschüttungen, zwei
davon schon in der Annäherung. Das sagte sie so neu, als habe sie es noch nie gesagt. Das war die Paradeseite aus der
vergilbenden Ehechronik. Unvorstellbar, daß sie solche
Kontakte nie gehabt hatte. Er hatte sie zurückzuholen aus den Fängen wild auftrumpfender Erinnerungsschweine-reien. Das war ihm immer eine ihn ganz und gar
aufpeitschende Beschäftigung. Annas unbestreitbare Gegen‐
wart und Anwesenheit. So wurde es doch noch ein Fest.
Niemand weiß so genau wie Anna, was für ihn schön ist. Mit
Kunst erzeugt sie Natur. Und sie weiß selber nicht mehr, daß
sie ihm etwas zuliebe tut. Die Freude, ihm etwas zuliebe zu
tun, reißt sie so hin, daß sie, was sie tut, nur noch um ihretwillen tut. Mehr kann zwischen zwei Menschen nicht
sein. Ihn steckte sie an. Er wollte sie übertreffen. Ihn eroberte die Begierde, zu ihr noch lieber zu sein als sie zu ihm. Und alles ohne Calvados. Eines Tages oder eines Nachts wird er herausbringen, ob Anna sich das Trinken angewöhnt hatte,
weil ihr dann die Auftritte als Maklerin leichter fielen oder damit ihr das Miteeinanderschlafen besser gelang. Sie war keine Alkoholikerin. Sie selber sagte, im Calvados lebe der Geist der Äpfel. Für sie sei es eine Kommunion. Beates
Kommunion war ihr sicher fremd. Auch wenn er ihr einmal
alles, was ihm je passiert war, zu erzählen vermochte −, das
nicht. Äpfel waren, auch ungebrannt, Annas Früchte. Sie
könnte, sagte sie, von Brot und Äpfeln leben. Damit, daß 216
Gottlieb und sie es zu keinem Obstgarten gebracht hatten, hatte sie sich noch nicht abgefunden. Gottlieb wußte, eines Tages würde sie ihn auf eine sanft ansteigende, baumbe-standene Wiese führen und sagen: Gekauft.
Bis drei Uhr nachts hatten sie einander hineingeredet,
hineingerissen in eine Festlichkeit, hatten, was sie einander taten, Feiern genannt. Er hatte alles, was er sagte, aus Annas
Augen bezogen. Er hatte ihr gesagt, daß er es in Amerika nicht mehr ausgehalten habe, weil ihn ihre Augen verfolgt hätten. Ihr Blick, der bloße Blick. Bei anderen sei der Blick immer gefärbt von einer augenblicklichen Stimmung oder
Absicht. Und hatte an Beates Augenausdruck gedacht.
Traurig oder trotzig oder träumerisch. Annas Blick aber sei der bloße Blick. Ein dunkles Meer. Ohne bestimmte
Bedeutung. Jede Bedeutung verweigernd. Wie das Meer
eben. Und dann hatte er ganz direkt werden und hatte sagen
müssen: Aller Brennstoff stammt aus deinen Augen.
Verführungsgerede natürlich. Anna muß man verführen.
Man muß sie herumkriegen. Aber noch nie hatte sie sich
selber als die prinzipiell Unbereite so theatralisch produziert
wie in dieser Nacht. Sie herumzukriegen als märchenhafte
Aufgabe. Man kann viel falsch machen, aber man kann noch
mehr richtig machen. Jetzt auch noch das Ältersein, das er nicht Altsein nennen läßt. Anna hat sich eine abschließende Tonart angewöhnt, sie nimmt vorweg, was noch gar nicht da
ist, eigentlich sieht sie aus, wie sie immer ausgesehen hat.
Offenbar ist sie innerlich älter als äußerlich. Er weigert sich, Alter zu gestehen. Für sich fühlt er sich älter als alt, aber er kann sein Altsein mit niemandem teilen. Auch nicht mit
Anna. Soll sie ihr Altsein haben und er seins. Weil es
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