Der Augenblick der Liebe
Anna gegen die mächtigen Stämme, setzte sie fast
207
ein bißchen auf die sich anbietenden, glatten Rundungen
und fing an, Anna zu küssen, und zwar mit einem Ausdruck
großer Dankbarkeit. Wie froh er sei. Und glücklich auf eine verschollen geglaubte Art. Daß alles, was dann passierte, überhaupt nicht bequem oder genußreich war, war ihm nicht
nur recht, das forcierte er geradezu. Daß Anna im Kostüm gekommen war und nicht in Hosen, kann ausschlaggebend
gewesen sein. Eine lange Hose wäre zuviel gewesen. Obwohl
er vor allem zeigen wollte, daß er jetzt in aller Hast und Unbequemlichkeit mit ihr schlafen wolle. Je unbequemer,
um so deutlicher wurde, was er wollte. Das Unbequeme als
sein Geständnis. Als sein Heimkehrgeständnis. Als sein
Einundalleszugeben. Deshalb mußte diese einvernehmliche
Vergewaltigung stattfinden. Und gesagt werden mußte
nichts. So gut wie nichts.
Und da Anna das alles deutlich genug erkannte und be‐
antwortete, bewies, daß er sich nicht getäuscht hatte und daß
sie einander nicht täuschten. Als er Anna von der Bu‐
chenrundung herunterhalf, sagte er: Du weißt, beim Ge‐
witter heißt es, Buchen mußt du suchen. Wir haben sie gefunden, sagte Anna.
Nicht ganz so leicht war dann der Weg zurück zum
Parkplatz zu finden. Er hatte sich in all der Hast den Weg nicht gemerkt. Nach zweistündigen Irrwegen fanden sie
zurück. Einigermaßen zerzaust. Er sagte, als er Anna die Autotür aufhielt, für den Rückweg entschuldige er sich.
Anna sah ihn an, als sehe sie ihn heute zum ersten Mal. Dann
sagte sie: Unglaublich. Und er dachte, als er jetzt Anna ansah, daß ein Gesicht, das man kennt seit es jung war, nie bloß alt werden kann. Das junge Gesicht schaut aus allen 208
Jahren heraus. Gesichter, die man erst als ältere kennenlernt,
sind dann wahrscheinlich nichts als ältere Gesichter. Anna, dachte er, ist und bleibt das Mädchen.
209
IV.
Kehre
210
I.
Der Friseur sagte: Darf ich Ihnen das anreichen? Und hielt ihm, nach dem Haarewaschen, ein kleines Handtüchlein hin,
womit er sich die Augen auswischen konnte, falls Shampoo
hineingekommen sein sollte. Gottlieb sprang nicht auf, erhob
sich aber doch sehr plötzlich, legte das Geld auf den
Kassentisch und ging. Gerade, daß er noch die umgehängten
Tücher loswerden konnte. Was es zur Zeit kostete, wußte er.
Seit fünfundzwanzig Jahren kam er in dieses Geschäft. Aber
jetzt nicht mehr. Nie mehr. Darf ich Ihnen das anreichen.
Hatte der das fünfundzwanzig Jahre lang gesagt, und
Gottlieb war dieser Satz fünfundzwanzig Jahre lang nicht auf
die Nerven gegangen? Dann war es höchste Zeit, daß er
reagierte.
Sobald er draußen war, rannte er. Er hatte Angst, er könne
umkehren und sich bei seinem Friseur, der ja wahrhaft sein
Friseur war, entschuldigen. Anna sagte er nichts von dem plötzlichen Aufbruch im Friseurgeschäft. Was der Friseur
über ihn dachte, durfte ihn nicht kümmern. In ihm breitete sich eine Art Zufriedenheit aus: Er hatte getan, was er wollte.
Er hatte sich einmal nicht mehr ganz beherrscht. Er fühlte sich fast wie in der Badewanne. In der er nie lag, weil er von
Anfang an nicht baden, sondern nur duschen gelernt hatte.
Alles falsch sehen, das wollte er. Das wollte er dürfen. Keiner
Erwartung entsprechen.
211
Schluß mit entsprechen. Donʹt rise to the occasion. Und
gestand sich jetzt doch ein, daß der cholerische Anfall nicht vom Friseur provoziert worden war und nicht dem Friseur
gegolten hatte. Sein Spiegelbild war es. Er hielt sein Spiegel‐
bild nicht mehr aus. Eine halbe Stunde dieser Fratze
ausgesetzt zu sein −, das war unzumutbar. Was die Jahre in
seinem Gesicht angerichtet hatten, das mußte er nicht auch noch anschauen. Dreißig Minuten, achtzehnhundert Sekunden lang, präsentiert von einem kristallscharfen, alles
entblößenden Friseurspiegel. Er mußte einen Friseur finden,
der ihm die Haare vor einem verhängten Spiegel schnitt.
Basta.
Als er noch fünfzig Meter von zu Hause entfernt war,
überholte ihn Anna. Sie fuhr winkend vorbei, ließ das Ga-ragentor offen, war glücklich, weil der Rechtsanwalt aus
Göppingen jetzt endlich den Vorvertrag für das Bauernhaus
in Wintersulgen unterschrieben hatte. Und das vielleicht nur,
weil sie ihm für seine Analthrombose zu einer Blutegelsalbe
geraten hatte, und die hatte inzwischen gewirkt, der Kunde
ist geheilt.
Gottlieb schaute zu, wie sie Pflänzchen auspackte, die sie für ihren
Weitere Kostenlose Bücher