Der Augenblick der Liebe
wurde: Das Altersgeilste, ja! Aber Anna ging sofort zum Gegenangriff über. Wenn einer altersgeil geschimpft
werden könne oder gar müsse, dann Jarl F. Kaltammer, der immer schon, schon mit vierzig und fünfzig, deutlich
altersgeil gewesen sei. Lissi Reinhold und Anna lieferten jetzt
eine Debatte über Altersgeilheit. Gottlieb tat, als sei ihm alles, was da gesagt wurde, neu. Eine Zeit lang fürchtete er, zur Stellungnahme genötigt zu werden. Dante wälzte sich inzwischen auf dem Teppich und stieß Geschlechtsverkehrsbe‐
wegungen in den Raum. Und Althotelier Hugo hatte den
Mut, nicht nur hinzuschauen, sondern in eine winzige
Gesprächspause der Damen hinein und zu Dante hin zu
sagen: Ja, das Leben ist schwer. Lissi und Anna ließen sich nicht ablenken. Sie waren ja in der Hauptsache einig. Beide fanden Altersgeilheit gleich widerlich. Weil jede darauf
bestand, nur ihr negativer Favorit sei altersgeil, einigten sie sich schließlich lachend darauf, daß jede den Favoriten der anderen altersgeil finden dürfe. Anna merkte an, sie habe den so gut wie verschwundenen Kaltammer neulich gesehen, in der Bar des Insel‐Hotels in Konstanz. Er sei noch immer der Säuglingsgreis, der er immer gewesen sei, ge-spenstisch jung. Und immer noch der wimpernlose Blick
dieser sich nur ruckartig bewegen könnenden Augen.
Lizard, dachte Gottlieb, Glen O. Rosenne. Und die gelben Haare noch genau so gelb wie früher und keines fehle.
Zum Glück kam dann Dr. Reinhold vom Schach‐Computer
und meldete wie immer, der Computer habe gesagt: I lose.
Aber Dr. Reinhold meldete nicht mehr wie früher, in
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welchem Schwierigkeitsgrad er den Computer besiegt hatte.
Dr. Reinhold war fleischiger geworden. Sein Gesicht war
sozusagen über die Ufer getreten, weiche milchweiße Backen
flössen links und rechts vom zart gebliebenen Kinn abwärts.
Die Augen schwammen auf tiefhängenden Säcken. Aber er
war immer noch der stille hebe Mensch, der alle durch seine
Zurückhaltung beschämte. So hatte es Gottlieb immer
empfunden. Besonders in den Jahren, in denen sich Lissi
noch von ihrem bernhardinerhaften Soziologen Giselher
hatte bedienen lassen. Der war längst Professor in Frankfurt.
Dr. Reinhold nahm sich Häppchen von den Platten und aß, wie er immer gegessen hatte, nämlich nur mit vier Zähnen, oben zwei und unten zwei, mit diesen Frontzähnen zerklei-nerte er alles, was er in den Mund schob, ganz schnell. Lissi
war inzwischen beim Thema Scheidung. Die Scheidungen
nähmen, sagte sie, so zu, daß man von einer Scheidungs‐
epidemie sprechen könne. Wohin du kommst, überall lassen
sich die Leute scheiden, rief sie. Und nicht nur in Stuttgart und Karlsruhe, nein, auch in den kleinsten Dörfern, und mit
sechsundzwanzig genau so so wie mit zweiundsechzig. Sie
geriet richtig ins Schwärmen. Gottlieb nickte so nachdenklich
wie möglich. Anna machte ein kritisch zweifelndes Gesicht.
Auf der Heimfahrt dachte Gottlieb, Anna erwarte von ihm
jetzt eine Stellungnahme entweder zum Thema Altersgeilheit
oder zum Thema Scheidung. Für ihn war geil eines jener Wörter, die in der Zeit, als er allmählich von Wörtern besetzt
wurde, bei ihm nicht vorgekommen waren. Bis es bei ihm
auftauchte, hatte er für das, was geil sagen sollte, längst andere, halbwegs brauchbare Wörter. Also wirkte geil auf ihn eher wie ein Fremdwort. Man weiß genau, was gemeint ist, 224
aber man spürt nichts. Eines der Kunststoffwörter. Ähnlich wie Fan. Keinesfalls konnte er Anna oder irgendeinem Menschen sonst sagen, was er, wenn er dieses Wort jetzt auf
sich anwendete, empfand. Geil, das war doch in jedem Alter die Stimmung, die nicht heraus durfte. Das war doch immer
nur unter besonders gesegneten Umständen erlaubt gewe‐
sen. Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein
Älterer, wenn er denn das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine
Ahndung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die
haben eine Moral, die sie ästhetisch‐sittlich drapieren. Es schickt sich nicht nur nicht, es ist ekelhaft, alt und geil zu sein, das haben die Damen in ihrem Schatz‐Kaltammer-Disput verkündet. Gründe haben sie nicht genannt. Das ist einfach so. Inter omnes constat. Basta. Und weil das so ist, weiß Gottlieb, daß er, was bei ihm altersgeil genannt werden
konnte oder mußte, zu verbergen hatte, so wie er als Fünf-zehnjähriger seine Jugendgeilheit zu verbergen hatte. Es
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