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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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wurde: Das Altersgeilste, ja! Aber Anna ging sofort zum Gegenangriff über. Wenn einer altersgeil geschimpft
    werden könne oder gar müsse, dann Jarl F. Kaltammer, der immer schon, schon mit vierzig und fünfzig, deutlich
    altersgeil gewesen sei. Lissi Reinhold und Anna lieferten jetzt
    eine Debatte über Altersgeilheit. Gottlieb tat, als sei ihm alles, was da gesagt wurde, neu. Eine Zeit lang fürchtete er, zur Stellungnahme genötigt zu werden. Dante wälzte sich inzwischen auf dem Teppich und stieß Geschlechtsverkehrsbe‐
    wegungen in den Raum. Und Althotelier Hugo hatte den
    Mut, nicht nur hinzuschauen, sondern in eine winzige
    Gesprächspause der Damen hinein und zu Dante hin zu
    sagen: Ja, das Leben ist schwer. Lissi und Anna ließen sich nicht ablenken. Sie waren ja in der Hauptsache einig. Beide fanden Altersgeilheit gleich widerlich. Weil jede darauf
    bestand, nur ihr negativer Favorit sei altersgeil, einigten sie sich schließlich lachend darauf, daß jede den Favoriten der anderen altersgeil finden dürfe. Anna merkte an, sie habe den so gut wie verschwundenen Kaltammer neulich gesehen, in der Bar des Insel‐Hotels in Konstanz. Er sei noch immer der Säuglingsgreis, der er immer gewesen sei, ge-spenstisch jung. Und immer noch der wimpernlose Blick
    dieser sich nur ruckartig bewegen könnenden Augen.
    Lizard, dachte Gottlieb, Glen O. Rosenne. Und die gelben Haare noch genau so gelb wie früher und keines fehle.
    Zum Glück kam dann Dr. Reinhold vom Schach‐Computer
    und meldete wie immer, der Computer habe gesagt: I lose.
    Aber Dr. Reinhold meldete nicht mehr wie früher, in

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    welchem Schwierigkeitsgrad er den Computer besiegt hatte.
    Dr. Reinhold war fleischiger geworden. Sein Gesicht war
    sozusagen über die Ufer getreten, weiche milchweiße Backen
    flössen links und rechts vom zart gebliebenen Kinn abwärts.
    Die Augen schwammen auf tiefhängenden Säcken. Aber er
    war immer noch der stille hebe Mensch, der alle durch seine
    Zurückhaltung beschämte. So hatte es Gottlieb immer
    empfunden. Besonders in den Jahren, in denen sich Lissi
    noch von ihrem bernhardinerhaften Soziologen Giselher
    hatte bedienen lassen. Der war längst Professor in Frankfurt.
    Dr. Reinhold nahm sich Häppchen von den Platten und aß, wie er immer gegessen hatte, nämlich nur mit vier Zähnen, oben zwei und unten zwei, mit diesen Frontzähnen zerklei-nerte er alles, was er in den Mund schob, ganz schnell. Lissi
    war inzwischen beim Thema Scheidung. Die Scheidungen
    nähmen, sagte sie, so zu, daß man von einer Scheidungs‐
    epidemie sprechen könne. Wohin du kommst, überall lassen
    sich die Leute scheiden, rief sie. Und nicht nur in Stuttgart und Karlsruhe, nein, auch in den kleinsten Dörfern, und mit
    sechsundzwanzig genau so so wie mit zweiundsechzig. Sie
    geriet richtig ins Schwärmen. Gottlieb nickte so nachdenklich
    wie möglich. Anna machte ein kritisch zweifelndes Gesicht.
    Auf der Heimfahrt dachte Gottlieb, Anna erwarte von ihm
    jetzt eine Stellungnahme entweder zum Thema Altersgeilheit
    oder zum Thema Scheidung. Für ihn war geil eines jener Wörter, die in der Zeit, als er allmählich von Wörtern besetzt
    wurde, bei ihm nicht vorgekommen waren. Bis es bei ihm
    auftauchte, hatte er für das, was geil sagen sollte, längst andere, halbwegs brauchbare Wörter. Also wirkte geil auf ihn eher wie ein Fremdwort. Man weiß genau, was gemeint ist, 224
    aber man spürt nichts. Eines der Kunststoffwörter. Ähnlich wie Fan. Keinesfalls konnte er Anna oder irgendeinem Menschen sonst sagen, was er, wenn er dieses Wort jetzt auf
    sich anwendete, empfand. Geil, das war doch in jedem Alter die Stimmung, die nicht heraus durfte. Das war doch immer
    nur unter besonders gesegneten Umständen erlaubt gewe‐
    sen. Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein
    Älterer, wenn er denn das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine
    Ahndung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die
    haben eine Moral, die sie ästhetisch‐sittlich drapieren. Es schickt sich nicht nur nicht, es ist ekelhaft, alt und geil zu sein, das haben die Damen in ihrem Schatz‐Kaltammer-Disput verkündet. Gründe haben sie nicht genannt. Das ist einfach so. Inter omnes constat. Basta. Und weil das so ist, weiß Gottlieb, daß er, was bei ihm altersgeil genannt werden
    konnte oder mußte, zu verbergen hatte, so wie er als Fünf-zehnjähriger seine Jugendgeilheit zu verbergen hatte. Es

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