Der Augenblick der Wahrheit
und sah von hinten die Lässigkeit, mit der er sich eine Zigarette anzündete, die beiläufige Art, wie er seinen Koffer auf den Rücksitz des Taxis warf, sein leichtes und erfahrenes Grüßen des Fahrers, sein selbstsicheres Niederlassen auf dem Vordersitz, seine so oft wiederholte Anweisung, zum Flughafen zu fahren, sein Wissen, daß Geliebte und Aufträge hinter ihm lagen und ihn neue Partner und Jobs erwarteten, seine eklatante Einsamkeit und Furcht vor dem Alter und einem einsamen Tod, ein Sinnbild meiner selbst. All das sah ich, und ich stand noch an derselben Stelle und fühlte Verlust und Erleichterung zugleich.
Ich bat am Empfang um die dänischen Morgenzeitungen, setzte mich in meine Ecke und las auf einmal wieder Dänisch, versuchte, die merkwürdigen dänischen Geschichten zu entschlüsseln, und war froh, einem Spanier nicht erklären zu müssen, was in Dänemark vor sich ging. Anscheinend nicht viel, obwohl mir Artikel über zunehmenden Fremdenhaß und Berichte, wie mein altes Vaterland von rabiaten Einwanderern überschwemmt werde, neu waren. Als ich aufschaute, bemerkte ich nur eine Gruppe japanischer Touristen und dann Clara Hoffmann, die durch die Tür trat, einen Augenblick innehielt und sich umsah.
Sie sah jünger als in Madrid aus. Ich erinnerte mich, daß sie knapp über vierzig war. Sie trug Jeans und eine beige Bluse, unter der sich die Umrisse ihres BHs abzeichneten. Ihr Körper war zeitlos jung und schlank wie der Amelias. Sie hatte eine größere Tasche über der Schulter. Das zerstörte ein wenig die Eleganz. Aber sie mußte ja zur Arbeit. Seit Madrid war sie beim Friseur gewesen. Sie hatte jetzt eine kurze Frisur mit Locken.
Die stand ihr. Dadurch wurde ihr Gesicht jugendlicher, ohne gekünstelt zu sein. Und sie benutzte immer noch kein Make-up, nur einen schmalen Lidstrich und etwas Lippenstift. Sie kniff die graublauen Augen zusammen, während sie Ausschau hielt.
Besonders ihren Gang fand ich attraktiv. Sie machte kleine sichere Schritte, als ob sie ein wenig tanzte. Eine ebenso sinnliche wie sportliche Art zu gehen. Sie schaute sich mit selbstsicherem Blick in der Lobby um, und ich bemerkte, wie sich einige Männer an der Rezeption nach ihr umdrehten.
Eigentlich wollte ich ihr eben ein Zeichen geben, aber ohne nachzudenken nahm ich statt dessen meine Leica, berechnete Licht und Entfernung und schoß vier schnelle Bilder von ihr.
Zwei von ihnen liegen jetzt neben meinem Computer. Man könnte sie für eine Werbeserie benutzen für eine Frau mittleren Alters, die mit der Zeit geht und gepflegtes Haar und eine klassisch schlanke Figur hat. Eine schöne und kühle Frau, die ausgeglichen ist und die Welt annimmt. Instinktiv legte ich einen klassischen Goldenen Schnitt ins Bild. Clara ist im Softfokus, vor ihr der Rand eines Pflanzenarrangements und hinter ihr die Rezeption und ein Mann im Anzug, der den Kopf gedreht hat, um sie zu betrachten. Es ist eines meiner besseren Bilder und zeigt eine typische Frau der umtriebigen neunziger Jahre, reif und doch sexy. Sich selbst genug und doch bereit, die Zügel schleifen zu lassen, wenn sich die richtige Gelegenheit ergab und Platz im Kalender war.
Ich legte die Leica auf den Tisch und winkte, und ihr Gesicht hellte sich auf. Sie kam mir lächelnd entgegen. Mir fiel ein, daß Clara die einzige Frau seit Amelias Tod war, die mich berührt hatte. Es war das erste Mal, daß ich einen anderen Menschen wieder als ein geschlechtliches Wesen ansah, als Wesen, das nicht nur ein Mensch war, sondern auch ein erotisches Objekt.
Ich hatte überhaupt nicht an Sex gedacht, es sei denn in grotesken Träumen, vergleichbar den Bildern, die ich mit Amelia in Salvador Dalis Museum in Figueres in Katalonien gesehen hatte. Maria Luisa hatte angefangen zu weinen, als sie diese Bilder sah. Sie war untröstlich, bis wir später bei McDonald’s aus ihr herauskriegten, was sie so beunruhigt hatte.
»Der muß so ein unglücklicher Mensch sein, dieser Maler«, hatte sie gesagt. »Er tat mir so leid, und dann hatte ich Angst.«
Das hatte ich nicht, als ich Clara Hoffmann sah. Es war eher ein erhebendes Gefühl. So scheint es mir jedenfalls in der Erinnerung. Ich wurde froh, obwohl es nichts gab, an dem ich Freude haben konnte. Das schlechte Gewissen piesackte mich, aber eigentlich war es nur schön, eine sommerliche Frau auf mich zukommen zu sehen, die mir die Hand entgegenstreckte, lächelte und sagte: »Schön, dich zu sehen, Peter.«
»Ich freue mich auch,
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