Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
Vom Netzwerk:
verantwortlich hielt. Wenn man daran denkt, wieviel Geld er verdient hat, weil du und ich die Fotos geliefert haben, die die Leser sehen wollten.«
    Er hob die Arme. »Ich sage dir, es war unglaublich. Die Massen. Die Medien. Friede und Liebe und Heuchelei und Scheiß und Dreck auf der ganzen Linie. Und die ganzen Blumen! Konnte man Heuschnupfen von kriegen, verflucht!
    Ganz zu schweigen von der BBC und den Teddys. Ich weiß nicht, was am schlimmsten war. Aber ich sag dir …«
    Er unterschrieb seinen Kreditkartenbon.
    »Man muß jung sterben, dann wird man Märtyrer und Held zugleich«, sagte ich.
    »Und man muß schön sein. Wenn sie zwanzig Jahre älter gewesen wäre und nicht so irre fotogen, wär’s ’ne nonstory gewesen. Herrgott. Ein tragischer, banaler Verkehrsunfall. Und es war ja nicht einmal die Schuld der Kollegen. Aber das darf man keinem sagen. Du warst nicht in London, oder?«
     
    Obwohl ich den Eindruck hatte, daß er diese Überlegungen schon oft zum besten gegeben hatte, konnte ich sein Vergnügen sehen, sie noch einmal einem Kollegen gegenüber loszuwerden, der die Reichtümer, die in Fotos verborgen lagen, ebenfalls kannte und besonders die lockende Faszination und die Befriedigung, wenn die Beute erlegt war.
    »Nein, war ich nicht, aber Madrid ist auch ausgeflippt.«
    »Auch hier, fair Copenhagen, sagte man mir. Ich fand alles so verdammt übertrieben. Wenn man daran denkt, wozu sie uns gebraucht hat, nicht? Wenn der Stockfisch und Mummy einen Schlag in den Solarplexus kriegen sollten oder hungernde Kinder einen Schilling. Ich verstehe immer noch nicht, was mit der Welt los war. Aber ich habe zum ersten Mal verstanden, wie es sein muß, in einer Diktatur zu leben. Du weißt schon, Bürger in einem Land wie der DDR zu sein mit Gedankenpolizei und Gleichschaltung und all dem Scheiß. Wenn man nicht der Meinung war, die Schnepfe sei das Größte seit der Jungfrau Maria, wurde man ausgeschlossen, und wenn es nach den Leuten und den scheinheiligen Piefkes in den Redaktionen gegangen wäre, dann hätte Großbritannien eine Stasi aufgebaut, die alle gejagt hätte, die Diana nicht für eine Inkarnation des Guten hielten, damit sie für immer und ewig in den Archiven als Volksfeinde festgehalten würden. Jesus Maria!«
    »Das ist ja jetzt vergessen«, sagte ich.
    »Eben. Das ist ja die Pointe«, sagte Derek.
    Er schaute wieder nervös auf seine Uhr, so daß ich nur noch sagte, ich wolle ihn nicht aufhalten, und ihn bat, Gloria oder Oscar zu grüßen, falls er ihnen irgendwo in London über den Weg liefe, wo sich Medienleute trafen, um zu essen und zu trinken.
    »Okay. Sollte mich nicht wundern, wenn ich sie irgendwo sähe. Wie lange bist du hier? Falls sie fragen.«
     
    »Keine Ahnung. Vielleicht eine Woche. Vielleicht bis morgen.«
    »Ausgestiegen, was, Lime? Ich würde gern in deiner Haut stecken. Na, ciao. See you around. Enjoy your rest.«
    Wir reichten uns die Hand, und als er das Hotel mit unbekanntem Ziel verließ, tippte er mit dem Finger an eine imaginäre Mütze. Es ging mich nichts an, was er in Kopenhagen gemacht hatte, wenn er es mir nicht erzählen wollte. Er hatte in Wahrheit sicher nie mit dem Gedanken gespielt aufzuhören. Er würde auf die Jagd und die Belohnung nicht verzichten können, auch wenn es ihm gelänge, Clinton zu knipsen, wie er ohne Hose dasteht mit einer jungen Dame, die vor ihm kniet. So ein Foto würde ihn steinreich machen, und doch würde er weiterhin in irgendeiner Großstadt oder an einem Privatstrand oder irgendwo anders auf der Welt ebenso geduldig in Regen oder Hitze ausharren wie ein Heckenschütze in Sarajewo während des Bürgerkriegs. Für ihn zählte nur die Jagd. Auch für mich war sie das wichtigste an meinem Job gewesen. Die Gewißheit, daß jeder auf dieser Welt in den Staub gedrückt und in seiner Menschlichkeit enthüllt werden konnte, wenn er es am wenigsten erwartete.
    Ich schaute ihm nach und dachte einen Augenblick, daß seine Welt ebenso erstrebenswert wie furchtbar war. Ich konnte mich entscheiden: in die Firma zurückkehren und das tun, was ich konnte, oder wie jetzt in einem Vakuum zwischen Vergessen und Erinnerung verharren. Ich konnte herumreisen und auf der Lauer liegen oder zur seriösen Fotoreportage zurückkehren und damit in die Brennpunkte des Weltgeschehens eintreten, um den Morgenzeitungen das Grauen zu schildern. Oder ich traf keine Wahl und glitt wie jetzt einfach mit dem Strom dahin. Ich stand in der Lobby und schaute Derek nach

Weitere Kostenlose Bücher