Der Augenblick der Wahrheit
doppelten Korn. Ich saß allein an einem Ecktisch. In dem Café waren nur wenige Gäste, es hatte eine scheußliche, kalte Beleuchtung, häßliche Plastiktische und einen imitierten Stahltresen. Ich bekam richtig Sehnsucht nach Madrid und einem richtigen Café mit dem wohlbekannten spanischen Lärm und den schweren Schinken, die von der Decke hängen, und dem Duft nach Knoblauch und Wein. Nach einem sauberen, gutbeleuchteten Café.
Ich trank aus, bestellte noch einen doppelten Korn und bat um ein Telefonbuch, für den Buchstaben S. Der Mann hinter dem Tresen warf es mir ohne ein Wort herüber, und ich schlug Schadenfelt auf. Es gab nur drei mit dem Vornamen Helmut.
Einer wohnte in der Karl-Marx-Allee. Die führte zum Alexanderplatz, dann konnte ich gleich mit dem anfangen. Ich kippte den Schnaps, trank meinen Kaffee und ging. Ich war nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Der Alkohol auf leeren Magen hatte eine ziemliche Wirkung.
Die Wohnblöcke standen osteuropäisch massiv in Reih und Glied, aber der Eingang war frisch gestrichen und gepflegt. Es gab eine Gegensprechanlage. Helmut Schadenfelt wohnte im 9.
OG rechts, und ich drückte auf den Klingelknopf. Es passierte nichts. Ich versuchte es noch einmal. Es passierte immer noch nichts. Ich wartete, und nach ein paar Minuten ging die Haustür auf, eine ältere, gutgekleidete Dame trat heraus, und ich schlüpfte hinein, wobei ich höflich grüßte. Sie schaute mich mißtrauisch an, aber dann ging sie weiter.
Der Aufzug roch nach Kohl und frischer Farbe. Schadenfelts Tür war braun wie alle anderen auch. Ich klingelte ein paarmal, aber es passierte wieder nichts. Wenn ich das Ohr an seine Tür hielt, konnte ich aus der Wohnung nichts hören. Ich wußte nicht, ob es der richtige Schadenfelt war, aber intuitiv war ich mir ziemlich sicher.
Ich mußte etwas über eine Stunde warten. Jedesmal, wenn ich jemanden auf der Treppe hörte, tat ich, als wäre ich auf dem Weg nach oben oder nach unten. Die alten Ost-Berliner sind in einem System des Mißtrauens aufgewachsen, und ich mußte damit rechnen, daß sie womöglich ziemlich rasch die Polizei rufen würden, wenn sich verdächtige Personen zu lange im Treppenaufgang aufhielten.
Dann kam er. Er trat aus dem Aufzug. Ein schwerer, rotfleckiger Mann um die Sechzig. Breite Hosenträger hielten die Hose über dem mächtigen Bierbauch. Er hatte kräftige Schultern und Hände und die dünnen Beine der Trinker, und er war angetrunken. Mit Mühe bekam er den Schlüssel ins Loch, und als die Tür nach innen aufging, trat ich ins Licht und sagte auf deutsch: »Oberstleutnant Schadenfelt? Haben Sie einen Augenblick?«
Er drehte sich um und schwankte, aber seine schwimmenden Augen waren verblüffend scharf.
»Fuck off, foreigner!« sagte er und wollte die Tür schließen.
Ich machte einen Schritt vorwärts und rammte ihm den gestreckten Zeige-und Mittelfinger der rechten Hand genau in den Solarplexus und leicht unter die Rippen, so daß er aschfahl wurde und vornüberkippte. Ich packte ihn am Hemd und stieß ihn rückwärts in den kleinen Flur, und als wir drinnen waren, setzte ich meinen Fuß hinter seine Ferse und wälzte ihn gegen die Wand. Ich schlug ihm eine kurze Rechte ans Kinn und hielt ihn fest, so daß er die Wand langsam hinabrutschte und mit leeren Augen liegenblieb, aber ich sah noch seinen Puls am Hals pochen. Ich schaute auf den Treppenabsatz. Kein Mensch zu sehen. Das Ganze hatte nur einige Sekunden gedauert.
Helmut Schadenfelts Wohnung war ziemlich groß. Drei Zimmer und eine Wohnküche. Anscheinend hatte er die alte Wohnung behalten, die ihm Partei und Stasi besorgt hatten. Die Küche erstickte in dreckigem Geschirr, das ungemachte Bett roch nach ungewaschenem Mann, und zwei Zimmer waren leer, als hätte er die Möbel verpfändet oder verkauft. Dafür standen überall leere Schnapsflaschen. Der einzige saubere Gegenstand schien ein Foto von einer jüngeren Ausgabe von Helmut zu sein.
Er war in vollem Wichs und bekam von Markus Wolf einen Orden überreicht. Hinter den beiden stand, ebenfalls in Uniform, Oscar. Ich schaute auf Datum und Beschriftung: »Für treue Dienste, 16. April 1985«.
Oscar hatte sich also hin und wieder fortgestohlen, um in den geschlossenen Bereichen der Stasi in Paradeuniform herumzustolzieren.
Ich schlug das Bild gegen die Kante eines geschmacklosen braunen Kacheltischs, angelte das Foto aus dem zerbrochenen Glas des Rahmens und steckte es in die Innentasche meiner Lederjacke.
Da
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