Der Augenblick der Wahrheit
ich die Akte von Karl Heinrich Müller einsehen?«
Herr Weber schaute mich mit seinen lebendigen, sympathischen Augen an.
»Sie sehen etwas blaß aus, Herr Lime. Brauchen Sie einen Arzt?«
»Ich brauche einen Schnaps und die Akte von Karl Heinrich Müller.«
»Mit dem Schnaps kann ich leider nicht dienen, aber nehmen Sie doch bitte wieder Platz, dann werde ich sehen, was ich mit Karl Heinrich Müller machen kann.«
Ich hatte dröhnende Kopfschmerzen, und meine Hände zitterten. Ich brauchte nur eine knappe Viertelstunde an meinem Tisch zu warten. An einem anderen Tisch weinte eine jüngere Frau lautlos. Ein steter Strom Tränen lief ihr die Wangen hinunter, während sie offenbar wieder und wieder denselben Satz las. Aber niemand nahm von ihr Notiz. Im Lesesaal kümmerte sich jeder anscheinend nur um sich selbst. Man saß allein mit seinem Wissen, das man sich doch eigentlich gewünscht hatte, worauf man aber vielleicht schließlich doch gern verzichtet hätte.
Herr Weber legte einige Bogen Papier und ein Foto auf meinen Tisch.
»Danke. Das ging ja schnell«, sagte ich.
»Es gibt nicht viel. Seine Akten gehören zu denen, die eingestampft wurden, als man gleich nach der Wende versucht hat, Beweise zu vernichten. Da liefen die größten Reißwölfe des Ministeriums auf Hochtouren. Wir bemühen uns, einen Teil der Papiere wiederherzustellen, aber das ist ein jahrelanger Prozeß.
Vielleicht unmöglich.«
»Verstehe.«
Herr Weber zögerte.
»Manche haben die Gelegenheit ergriffen, mit einem Führungsoffizier zu sprechen. Die meisten wohnen, wo sie immer gewohnt haben. Manche wollen reden. Andere nicht.«
»Danke, Herr Weber.«
»Keine Ursache, Herr Lime. Keine Ursache.«
Er hatte recht.
Da stand fast nichts über Oscar. Nur daß Karl Heinrich Müller seit 1967 fest im Geheimdienst angestellt war, angeworben durch die Grenztruppen, bei denen er auch seine Wehrpflicht abgeleistet hatte. Schon seit seinem vierzehnten Lebensjahr war er IM. Als Neunzehnjähriger wurde er mit neuer Identität nach Westdeutschland geschmuggelt. Journalist bei mehreren kleinen Zeitschriften, die teilweise von der DDR oder Moskau finanziert wurden. Ein Foto lag dabei. Es zeigte einen jungen, glatt rasierten Oscar in der häßlichen Vopo-Uniform. Er hat ganz kurz geschnittenes Haar und schaut direkt in die Kamera. Hinter ihm sieht man ein Stück der Mauer. Ich las alles zweimal, aber nirgendwo stand, daß er sein Amt je aufgegeben hätte. Es hieß nur, sein letzter Dienstgrad sei der eines Majors gewesen und für gute und langjährige Dienste habe man ihn für einen Lenin-Orden vorgeschlagen. Der Vorschlag für den Lenin-Orden stammte vom Oktober 1989 in Verbindung mit dem 40.
Jahrestag der DDR. Einen Monat vor dem Fall der Mauer.
Wußten die Leute denn nicht, was bevorstand?
Ich hatte wieder Lust, mich zu übergeben, aber ich schrieb den Namen Schadenfelt und die Nummer meiner Akte in mein Notizbuch und ließ die Unterlagen auf dem Tisch liegen. Von mir aus konnten sie sie verbrennen. Der Staub des Lesesaals und die Verzweiflung über das Wesen des Verrats verursachten mir wieder Übelkeit. Ich mußte raus.
Herr Weber stand beim Pförtner.
»Auf Wiedersehen, Herr Lime«, sagte er. »Sehen wir Sie wieder?«
»Nein.«
»Dann werde ich mir erlauben, Ihren Fall als durchgelesen und erledigt abzulegen.«
»Auf jeden Fall durchgelesen.«
»Erledigt wird er für die Beteiligten wahrscheinlich nie sein, aber für uns ist es ein weiterer Fall, der zu den anderen gelegt werden kann. Noch ein Stück Trauer, das wieder archiviert werden kann.«
»Auf Wiedersehen, Herr Weber. Und grüßen Sie die Affen.«
Er gluckste.
»Mit Vergnügen. Ich besuche meine alten Freunde oft, wenn mir die Menschen zuviel werden. Gehen Sie mit Gott.«
Es war eine Befreiung, an die Luft zu kommen. Ich zog den Reißverschluß meiner Lederjacke hoch, lief planlos durch die nassen Straßen und ließ mich vom Berliner Regen reinwaschen.
Ich weiß nicht, wie lange ich ging und wohin, aber plötzlich erkannte ich den Alexanderplatz und dann die Statue von Marx und Engels, die hier mutterseelenallein im Schatten des Fernsehturms saßen. Es war Abend und dunkel geworden, und in den Pfützen spielte das Licht. Mein Haar war klitschnaß, aber der Regen hatte aufgehört. Ich schaute mich um und entdeckte eins dieser neumodischen Cafés. Ich ging auf die Toilette und trocknete mein Gesicht, fuhr mir durchs Haar und bestellte dann einen Kaffee und einen
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