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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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Agent, wenn mir die Relevanz des Kampfes gegen Imperialismus und amerikanischen Militarismus bewußt gemacht worden sei. Ich hätte den amerikanischen Krieg in Vietnam verurteilt und bei einem Fotoauftrag, der einer der euphorischen Massenversammlungen der spanischen KP galt, gesagt, wenn ich Spanier wäre, wäre ich Kommunist. Die Konjunktive sprangen mich aus den dicht beschriebenen Seiten an. Es gab beiläufige, aber offenbar doch wichtige Beschreibungen meiner Lieblingsklamotten, der von mir gelesenen Autoren – Hemingway und der Däne Klaus Rifbjerg –
    , meiner Freundinnen, meiner Aufträge. Meine wechselnden Adressen. Manchmal stand da bloß, ich sei auf Reisen und außerhalb der Beobachtung. Eine Notiz empfahl ein Visum für Moskau. Es gab mehrere Einschätzungen meiner politischen Anschauungen. Sie waren nicht mehr so progressiv, und in meinem politischen Bewußtsein wurden keine Fortschritte notiert.
    Jede Seite hatte ihre Nummern und Kodes und Decknamen und Querverweise. Mein Referent beschrieb, wie wir zunächst Kollegen und später Freunde geworden waren. Er schrieb, ich tränke zuviel und hätte Probleme, mit dem anderen Geschlecht ein festes Verhältnis einzugehen, und bevorzugte lockere Beziehungen und unverbindliche Affären. Es gab Beschreibungen von Treffen und Gesprächen, von Reisen und Artikeln, von Haltungen und Standpunkten. Im Lauf der Jahre zwischen dem ersten Bericht 1976 und dem letzten 1981 stellte mein Referent fest, daß ich weniger fortschrittlich sei, als zunächst angenommen, daß ich für bürgerliche Propaganda und Lebensart empfänglich sei und daß ich die Ergebnisse, die die sozialistischen Länder unter Führung der Sowjetunion vorzuweisen hätten, nicht mit Bewunderung ansähe, sondern im Gegenteil den realen Sozialismus zunehmend kritisiere. Als ich 1981 abweichende Meinungen über die polnische Konterrevolution äußerte und sogar bekanntgab, nach Warschau zu wollen und die CIA-finanzierte Solidarnośź zu unterstützen, wurde ich als Agentenmaterial aufgegeben. Mein bürgerliches Bewußtsein sei zu stark, und ich sei, schrieb der Referent, unbestechlich, und obwohl meine Lebensführung im bürgerlichen Sinne nicht korrekt wäre, sei mir mein Ruf egal und ich könne nicht genötigt werden. Es wurde davon abgeraten, mir ein Arbeitsvisum für die VR Polen auszustellen. Das war also der Grund, warum ich in der Zeit des Kriegsrechts nie nach Polen hineingekommen bin.
    Leica taugte nicht zum ostdeutschen Agenten. Fall abgeschlossen und abgelegt. Völlig unwichtige Akte, die nur ein paranoides System aufbewahren konnte und die ich sofort hätte vergessen können, wenn der Referent nicht Oscar gewesen wäre. Dieser Name stand dort natürlich nicht. Das war der Name, unter dem ich ihn kannte. Wenn Oscar an Oberstleutnant Helmut Schadenfelt schrieb, hatte er mit Karl Heinrich Müller unterschrieben. Erst Leutnant, später Hauptmann, schließlich Major in der HVA, der Schadenfelt und Mischa Wolf direkt unterstellt war. Ich hatte es gleich gewußt, als ich das Foto sah und mich an Oscars und meine erste Reportage über die Massenveranstaltung der Kommunisten in Valladolid erinnerte, auf der Carillo reden sollte, dem ich anschließend Oscars Fragen übersetzt hatte. Damals hatte auch unsere scheinbare Freundschaft angefangen. Ein großer Literat war er nie gewesen
    – weder als Journalist noch als Stasi-Informant –, aber er war zwanzig Jahre lang mein Freund und hat doch immer mit verdeckten Karten gespielt.
    Es gab nicht viel über mich. Selbst mit meinen Deutschkenntnissen war es schnell gelesen, aber ich glaube, ich saß noch eine ganze Stunde da und schaute in die Luft, als existierte die Umgebung gar nicht mehr. In meinem Kopf lief nur ein Endlosband. Immer derselbe Gedanke, immer im Kreis.
    Oscar. Karl Heinrich Müller. Amelia. Maria Luisa. Und ein Foto, das eine junge Frau mit deutschen Terroristen in Dänemark zeigt, ein Foto, das Oscar gesehen hatte und das zum Katalysator geworden war.
    Plötzlich überkam mich eine furchtbare Übelkeit, ich lief auf die Toilette und erbrach mich heftig und schmerzhaft. Ich hielt meinen Kopf unter den Wasserhahn und setzte mich auf eine Kloschüssel und rauchte eine Zigarette. Dann ging ich zum Pförtner und fragte noch einmal nach Herrn Weber. Er kam eine Viertelstunde später mit einer Mappe in der Hand und mehreren seiner niederträchtigen Karteien unter dem anderen Arm.
    »Ja, bitte, Herr Lime. Womit kann ich Ihnen dienen?«
    »Darf

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