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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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Aber die Affen waren ein wunderbarer Umgang.«
    »Und wer hat Sie verraten? Ein Student?«
    »Nein, Herr Lime. Meine Frau.«
    Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Es war eine Tragikomödie und ein Elend, das zwei oder drei Generationen brauchte, um zu vergehen. Dann würden die Kinder und Kindeskinder bei dem Versuch zu verstehen, was diese Menschen zu ihren Taten getrieben hatte, kopfschüttelnd auf den Wahnsinn des zwanzigsten Jahrhunderts zurückblicken.
    »Das tut mir leid, Herr Weber«, sagte ich nur.
    Er nickte.
    »Sollen wir hineingehen?«
    »Ja, vielen Dank.«
    »Sie brauchen mir nicht zu danken, Herr Lime. Oder Leica.
    Nicht viele, die durch diese Tür gehen, kommen glücklicher heraus. Eher im Gegenteil.«
     
    21
    Herr Weber legte eine hellrote Papphülle auf den braunen Laminattisch. Er stand in einer Reihe entsprechender quadratischer Tische in einem hohen Raum mit hellgelben Wänden und einem abgetretenen Linoleumboden. Die Tische waren aufgestellt, als säßen wir beim Examen. Man saß mit anderen zusammen und doch allein, damit man dem Nachbarn nicht über die Schulter schauen konnte. Aber wir hatten es nicht mit Rechenaufgaben, sondern mit vertraulichen Mitteilungen zu tun. Der größte Teil der Tische war besetzt, Leute, die über Dokumente, Schwarzweiß-Fotos und Mikrofilme gebeugt saßen.
    Ein Bruchteil der Hunderttausende, die ihre Mappen aus Kunstleder oder schäbiger Pappe schon durchgesehen hatten.
    Der Umschlag besaß die gleiche schlechte Qualität wie der Inhalt der Papiere. Kleine kräftige Frauen in Plastiksandalen holten und brachten Dokumente und legten sie den Besuchern im Lesesaal vor, die alle wie auf einer Insel saßen und ihre Geschichte lasen. Durch hochgelegene Fenster drang das graue Novemberlicht, konnte aber mit dem kalten Schein der Neonröhren nicht konkurrieren. An den Tropfen, die über das Fenster rannen, sah ich, daß es wieder angefangen hatte zu regnen. Die Neonröhren summten, aber ich hörte die heftigen Tropfen gegen die Doppelverglasung trommeln.
    Auf der Hülle stand: OPK-Akte. MfS. XX, 1347/76-81.
    HVA/1249. Unter die Ziffern und Kodes, die wohl mit einem uralten Gummistempel auf die Vorderseite gestempelt worden waren, hatte irgendein gewissenhafter Kontorist in pedantischen Lettern ›Leica‹ geschrieben. MfS war natürlich das Ministerium für Staatssicherheit, die Stasi. HVA war die Abkürzung für Hauptverwaltung Aufklärung, die Auslandsspionage. Aber Aufklärung über was und über wen? Die HVA wurde von Markus Wolf geleitet und hatte einen nicht ganz so schlechten Ruf wie die Stasi, war aber auch Teil des Apparates gewesen.
    Ich konnte fast annehmen, daß die Ziffern 76-81 Jahreszahlen waren und die anderen lediglich Karteinummern.
    Ich öffnete die Hülle und blickte auf ein Jugendfoto von mir.
    Es war irgendwo in Spanien aufgenommen worden, dem Hintergrund nach dürfte es vor der alten Stierkampfarena in Valladolid gewesen sein. Es war ein gutes Amateurbild, aber mit einer billigen Kamera gemacht, denn Vorder-und Hintergrund erschienen zwar scharf, waren aber doch verschwommen, weil die Optik nicht gut genug war. Es handelt sich um irgendeine politische Veranstaltung. Vor dem Haupttor der Arena sind rote Fahnen und zwei Landrover der Guardia Civil zu sehen. Ich bin Mitte Zwanzig und blicke mit Kippe im Mund und dem langen Haar, das wasserfallartig vom Kopf absteht, in die Kamera.
    Meine Nicon und meine treue Leica, die ich immer dabeihatte, hängen mir über der Schulter. Ich trage ein kurzärmeliges helles Hemd und Jeans mit breitem Gürtel und meine damals so geliebten spitzen spanischen Stiefel mit den hohen Hacken. Das Bild zeigte, wer und wie ich war: ein selbstsicherer, arroganter Pressefotograf bei einem Auftrag.
    Nun wußte ich, was mich erwartete, aber ich nahm mir Zeit und fing an, die glatten Fotokopien zu lesen, die Herr Weber von den alten und mittlerweile sicher vergilbten Originalen gemacht hatte. Sie waren an einen Oberstleutnant Schadenfelt gerichtet, den Leiter der Abteilung II/9, die offenbar die Aufgabe hatte, westliche Geheimdienste durch Infiltration und Anwerbung von Agenten zu bekämpfen.
    Die Berichte waren eine Mischung aus Wahrheit und Schwindelei. Es gab eine Beschreibung von mir, mein Geburtsdatum, meinen familiären Hintergrund, meine Wurzellosigkeit. Ich wurde als progressiv beschrieben, ohne Parteimitglied zu sein. Ich sei potentiell geeignet, zunächst inoffizieller Mitarbeiter zu werden und später eigentlicher

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