Der Augenblick der Wahrheit
hörte ich Schadenfelts Stöhnen im Flur. Als ich hinging, hatte er sich auf ein Knie gestützt. Er war zwar betrunken, aber ich wollte trotzdem nichts riskieren. Ich trat ihm in die Seite, so daß er wieder hinfiel, dann packte ich seinen Adamsapfel, drückte zu und sagte auf englisch, da auch er in dieser Sprache so grob geworden war: »Helmut, mein Freund. Ich möchte nur ein paar Auskünfte, sonst nichts. Wenn ich weiterdrücke, stirbst du. Wenn du versprichst, dich ordentlich zu benehmen, laß ich los, und dann können wir zusammen einen Schnaps trinken.
Blinzel mit den Augen, wenn du mich verstanden hast.«
Er blinzelte, und ich löste meinen Griff und ließ ihn husten und röcheln. Dann hievte ich ihn hoch und setzte ihn in ein potthäßliches grünes Sofa, das vor dem kackbraunen Kacheltisch stand, der mit vollen Aschenbechern und ungespülten Gläsern bedeckt war.
»Schnaps, in der Küche«, sagte er heiser. In seinen Augen war Angst, aber nicht genug.
»Und jetzt keine Fisematenten mehr, ja, Oberstleutnant?«
»Schnaps«, sagte er.
Ich ging hinaus und fand eine Flasche im Kühlschrank, und als ich wiederkam, hatte er sich nicht von der Stelle bewegt, sondern massierte sein Kinn und seinen Adamsapfel. Ich reichte ihm die Flasche, er nahm einen Schluck und streckte sie mir entgegen, aber seine Wohnung hatte mir die Lust aufs Trinken fürs erste vergällt.
»Wer bist du, was willst du?« fragte er. »Ich hab kein Geld.«
»Mich über Karl Heinrich unterhalten.«
»Fuck off«, sagte er, und ich knallte ihm die Handkante gegen die Schläfe. Ich zog nicht durch, aber er kippte vom Sofa auf den Boden, und ich trat ihm gegen das Schienbein, daß er aufheulte.
»Ich bin in sehr schlechter Laune, Oberstleutnant. Mein Leben ist heute praktisch noch einmal zerstört worden. Das heißt, ich bin wirklich ziemlich sauer. Pissed off. Karl Heinrich?«
»Wer bist du?« fragte er noch mal und kroch wieder aufs Sofa.
Er war zäher, als er aussah. Ich zog die Flasche weg, als er danach griff.
»Wer bist du?« wiederholte er.
»Peter Lime.«
Er fing an zu lachen, hörte aber gleich wieder auf, weil es zu weh tat. Dann griff er wieder nach der Flasche.
»Peter Lime. Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
Das sagte er auf dänisch. Sein Akzent war stark, aber die Worte kamen fließend und grammatikalisch korrekt.
»Woher kannst du Dänisch?«
»Dansk, English, Russkij, Deutsch. Das war mein Beruf.
Vierzig Jahre lang. Aber sag mal, wie geht’s Oscar?«
Er sah wohl in meinen Augen, daß er den Bogen nicht überspannen durfte, und hielt sich schützend die Hände vors Gesicht.
»Schon gut, schon gut, Peter!« sagte er. »Ich bin alle. Ich bin ein alter Mann. Ich ergebe mich. Ich weiß, daß du Karate kannst.
Laß uns einen Schnaps trinken und reden. Ich weiß ja, daß du gegen einen Schnaps nichts einzuwenden hast. Ich weiß alles von dir. Du bist Karl Heinrichs bester Freund. Er liebt dich wie seinen eigenen Bruder.«
Er begann zu lachen, und um ihm das Maul zu stopfen, reichte ich ihm die Flasche, er nahm einen langen Schluck und fing dann zu reden an, als müßte er sich schon seit langem mal bei jemandem ausquatschen. Als hätte er im Grunde nur auf mich gewartet.
»Wenn du mich heute so siehst, kannst du es nicht verstehen, Peter Lime. Die Macht, der Einfluß, das Gefühl, etwas zu sein und zu tun. Anders zu sein. Den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden aufzubauen. Die Anschläge der Kapitalisten zu verhindern. Aber am meisten das Spiel. Agenten einzusetzen.
Das Spiel, das auf der Welt das meiste Adrenalin freisetzt. Du darfst mich nicht so sehen, wie ich jetzt aussehe. So sehen Verlierer aus, und wir haben den Krieg verloren. Ohne Blutverlust, doch wir haben verloren. Aber ich war dabei, als wir groß waren. Wir hatten 90000 Angestellte im Ministerium.
Wir hatten 200000 Informanten, und wir waren über 5000 in der HVA, der Creme des Ministeriums unter dem großen Wolf. Wir waren die erfolgreichste Spionageorganisation der Welt. Wir wußten über alles Bescheid, was vor sich ging, in Bonn, in Kopenhagen, in London, im Vatikan. Wir waren ein irres Erfolgsunternehmen, und ich bin stolz, dazugehört zu haben.«
»Aber ihr habt verloren, wie du sagst.«
»Wir haben verloren, aber wenn ich jetzt den Büßer spielen soll, das kannst du vergessen. Ich habe an den Sozialismus geglaubt, und ich glaube immer noch dran.«
Er nahm wieder einen Schluck. Langsam schwand die Angst aus
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