Der Augenblick der Wahrheit
kurzärmligem Hemd, an mich heran, faßte mich fest am Arm und wies auf einen weißen BMW, der mit laufendem Motor am Bordstein hielt. Ich setzte mich auf den Rücksitz, und das Auto fuhr langsam los.
Im Auto saßen zwei Männer. Sie trugen trotz der nächtlichen Dunkelheit Sonnenbrillen und Baseballmützen und achteten darauf, sich nicht umzudrehen. Wieder fuhren wir etwas planlos herum, wie die anderen jungen Männer in ihren schimmernden Wagen, der modernen, motorisierten Ausgabe des spanischen paseo. Sehen und gesehen werden vor dem Abendessen. Wir fuhren die Boulevards auf und ab und das eine Kap hinauf und wieder hinunter, ehe wir den Arbeitervorort Renteria erreichten.
Hier endete das mondäne San Sebastian. Statt dessen sah ich im Scheinwerferlicht die abblätternden Mauern der Mietskasernen, ausgebrannte Autos tauchten an den Bordsteinen wie moderne Skulpturen auf, und dünne Menschenschatten kauerten zwischen Abfall und Mauerbrocken. Rauschgiftsüchtige und Nutten auf dem Weg in die dunkle Nacht. Hier konnte die ETA sich sicher fühlen. Nicht, weil man in Renteria die jungen hitzigen Terroristen liebte, sondern weil man hier die Polizei und andere Behörden noch mehr haßte.
Der BMW bog auf eine Baustelle ein. Zwei große Ratten liefen an den Resten der Ruine entlang, die einst eine dieser schäbigen Mietskasernen für andalusische Arbeiter gewesen war, die sich unter Franco hier um einen Job beworben hatten, um am spanischen Wirtschaftswunder teilzuhaben. In einer Ecke sah ich im Licht der Scheinwerfer einen alten Gasherd und einen verrosteten Kühlschrank. Die Straßenlaternen waren schon vor langer Zeit zerschlagen worden.
»Raus, Lime!« sagte der Fahrer.
Ich stieg aus, und der BMW rollte von dem Grundstück. Mein Herz pochte. Ich hörte die Autos vom nahen Autobahnkreuz, das sich wie eine leuchtende Narbe durch den Stadtteil zog. Ich hatte das Gefühl, daß jemand in der Ruine war. Aber ohne die Autoscheinwerfer war es so dunkel, daß dies nur ein Gefühl blieb. In meinem Körper pumpte das Adrenalin, und ich atmete ein paarmal tief durch, ballte die Fäuste und ging in Kampfstellung. Bereit, in Aktion zu treten, wie ich es im Karatestudio in Madrid gelernt hatte.
Aber es kam niemand aus der Ruine. Dafür hielt einige Meter vor mir ein anderes Auto an, so daß ich mich umdrehte und der Ruine den Rücken zukehrte. Es war ein schwarzer Seat, und zwei Männer stiegen aus dem Fond, während der Fahrer sitzen blieb. Der Motor lief, und das Licht blendete mich, aber das bezweckten sie ja. Sie standen neben dem Auto, so daß sie sich schnell wieder hineinsetzen konnten. Ich stand im vollen Licht, während ich nur ihre Silhouette sehen konnte. Es waren kräftige junge Männer in Jeans und dunklen Windjacken. Sie hatten den Kragen hochgeschlagen und die Mützen tief in die Stirn gezogen.
»Wir haben nicht viel Zeit, Peter Lime«, sagte der eine.
»Warum habt ihr meine Familie ermordet?« fragte ich heiser und trat einen Schritt vor. Mein Mund und meine Kehle waren trocken.
»Bleib stehen, Lime«, sagte derselbe Mann.
»Warum?« sagte ich.
»Wir waren es nicht. Wir haben verstanden, daß du es von uns selbst hören wolltest. Jetzt hast du es gehört. Beim Boden Euskadis und dem Blut der Märtyrer schwöre ich, daß wir nichts damit zu tun haben. Wir wußten nicht einmal, daß die verräterische Schlampe in dem Haus untergebracht war. Wir waren es nicht.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich war nicht eine Sekunde im Zweifel, daß sie die waren, für die sie sich ausgaben. Sie dampften vor Gefährlichkeit und Verzweiflung, und daß mich Tómas hinters Licht führte, hielt ich für ausgeschlossen. Offenbar war es auch für sie wichtig zu betonen, daß sie nicht die Drahtzieher waren. Das wollten sie mir sagen – vielleicht weil sie Tómas einen Gefallen schuldeten.
»Danke«, sagte ich tonlos.
Der eine setzte sich wieder ins Auto, während der andere stehenblieb und sagte: »Wenn du die Hintermänner findest, können wir dir vielleicht helfen, die Rache zu bekommen, die du offenbar willst.«
»Warum solltet ihr mir helfen?«
»Weil du mal einem von uns geholfen hast.«
»Das ist lange her.«
»Wir vergessen nie, Peter Lime. Denk dran. Wir vergessen nie.«
Er setzte sich in das Auto, und bevor er überhaupt die Tür zugeschlagen hatte, ließ der Fahrer die Kupplung los, beschleunigte in einer scharfen Drehung und schleuderte eine Kaskade von Kies und Sand nach hinten. Es wurde wieder
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