Der Augenblick der Wahrheit
gesetzestreuer Bürger war, mußte er damit rechnen, daß ihn die Nachrichten-und Geheimdienste für den Rest seiner Tage beobachteten.
Vielleicht war seine Legalität bloß eine Fassade. Er stand auch immer in Gefahr, daß die andere Seite ihn verdächtigte, er spiele womöglich ein doppeltes Spiel und es könne ihm einfallen, zum Verräter zu werden, womit er freilich sein eigenes Todesurteil unterschrieben hätte. Im Grunde lebte er das qualvolle, nervöse und aufreibende Leben des Doppelagenten, das damit enden konnte, daß man sich vor seinem eigenen Schatten fürchtete.
»Auf der Parkbank. Die Tiefgarage am Londres um 20 Uhr.
Halt eine Abendausgabe des Diario Vasco in der Hand«, sagte er leise und nervös.
»Danke, Tómas«, sagte ich nur. »Ich stehe in deiner Schuld.«
»Freunde können nie in der Schuld des andern stehen«, sagte er. Aber ich konnte ihm ansehen, daß ich unsere Freundschaft so weit wie nur möglich strapaziert hatte. Vielleicht war es ein furchtbarer Irrtum gewesen, und er hatte ein schlechtes Gewissen. Vielleicht war es wegen Maria Luisa. Wegen Amelia.
Oder wegen der vielen Jahre, die wir uns kannten, oder weil er wußte, daß es bloß ein Teil meiner Trauertherapie war. Wir verabschiedeten uns mit festem Händedruck, aber ziemlich kühl, dann verschwand er an einem vergitterten Fotogeschäft um die Ecke der siestaleeren Straße.
Ich streifte ein paar Stunden durch die Stadt. Das Gehen tat mir gut. Langsam füllten sich nach neunzehn Uhr die geraden, engen Straßen der Innenstadt mit Menschen, und die Gitter der Geschäfte schnellten mit einem Knall in die Höhe, der sich in den Gassen wie Kastagnettengeklapper anhörte. Die Promenade am Rathauspark summte nach der Siesta wieder vor Menschen, und der Verkehr toste wieder. Ich kaufte eine Ausgabe des Diario Vasco und setzte mich um drei Viertel acht auf die Bank am Eingang zur Tiefgarage unter dem Platz. Zu meiner Rechten lag das Rathaus und links das Hotel Londres, wo ich am Anfang meiner Karriere mehrmals gewohnt hatte, wenn irgendeine Zeitung für die Übernachtung aufgekommen war. Auf dem Monte Egueldo thronte die Christus-Figur. Es war Ebbe, und unterhalb der Promenade sah man den graugelben Sand. Leute planschten im Wasser. Junge Männer schwammen zu einem Floß, das draußen in der Bucht verankert war, deren muschelförmiges Aussehen ihr den Namen La Concha gegeben hat. Das Floß ließ mich an Hemingway denken. Andere Jungen zogen Fußballfelder in den Sand und bolzten dort unter lautem Geschrei, bis die Sonne in einer Orgie aus Rot unterging und die Dunkelheit das Spiel beendete und den Strand leerte, der mit der langsam steigenden Flut wieder schmaler wurde.
Eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind im Wagen setzte sich neben mich. Es war ein warmer und sanfter Abend, und sie hielt dem Kind ein Eis am Stiel hin, an dem es versunken lutschte. Sie plauderte auf baskisch mit dem Kind. Es wedelte mit den Händen und schlug nach der kleinen Haube, die auf seinem Bauch lag. Ich bückte mich, hob die Haube auf und reichte sie der jungen Mutter. Sie lächelte nur mit dem Mund.
Ihre Augen waren braun und ein wenig verschreckt.
»Danke. Geh zum Meer runter, wenn ich gegangen bin«, sagte sie auf spanisch, drehte den Kopf und streckte dem begeisterten Kind das Eis wieder hin.
Mein Herz schlug heftig. Sie saß ruhig da und ließ ihr Kind das Eis zu Ende lutschen, aber ihre Hände zitterten ein wenig, als sie dem Kleinen mit einer Papierserviette den Mund abwischte. Dann stand sie auf und ging mit dem Kinderwagen zur Kreuzung am Hotel Londres. Ich blieb noch fünf Minuten sitzen, ein Tourist unter vielen, und schlenderte dann zu dem kleinen Fischerhafen, wo die blauen Kutter unter der grauen Steinmauer vertäut lagen, die an das Stadtzentrum grenzte. Ich versuchte, mich nicht umzusehen, aber meine Handflächen waren feucht.
Auch unten am Hafen waren viele Menschen, die einen Spaziergang machten. Ich blieb am Kai stehen und betrachtete die breiten Kutter. Ein junger Mann blieb neben mir stehen. Er sah mich an, und ich folgte ihm im Abstand von einigen Schritten. Ich wußte, was sie vorhatten, als wir wie andere Abendspaziergänger in San Sebastian scheinbar planlos in der Innenstadt umherbummelten. Man würde mich genau beobachten, ob mir jemand folgte. Wir kamen zum Hafen zurück. Aus einer Gaststätte ertönte laute Rockmusik. Der junge Mann ging hinein. Dafür trat ein anderer junger Mann in gleicher Kleidung, Jeans und
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