Der Augenblick der Wahrheit
zum Eigentlichen vorzustoßen. Du hast die baskischen Terroristen eliminiert. Ich habe die Regierung, den Staat eliminiert.«
»Dann haben wir also keine Anhaltspunkte mehr?« sagte ich mutlos.
»Im Gegenteil. Wir sind in kurzer Zeit ungemein weit vorangekommen.«
»Und nun?«
Er stand auf, ging ins Haus und kam mit einer blauen Eintrittskarte für die Stierkampfarena Las Ventas am kommenden Sonntag wieder. Er hatte sich ein Wasser und mir eine Cola mitgebracht. Ich hätte lieber ein Bier gehabt, aber mein Respekt vor ihm war zu groß, als daß ich etwas gesagt hätte. Oder vielleicht wagte ich es auch nicht, weil ich in seinen Augen ein Spiegelbild von Amelias Augen sah. Ich schaute auf die Karte. Es handelte sich um eine normale Corrida. Die Namen der cuadrilla sagten mir nichts. In meiner jugendlichen Schwärmerei für Hemingway und meinem Traum von Spanien war ich ein aficionado gewesen und kannte alle Stiere und Stierkämpfer – los matadores de toros –, aber in den letzten Jahren bedeutete mir das Spiel mit dem Tod in der Sonne des Nachmittags nichts mehr. Wie die Mehrzahl der gebildeten Spanier war Amelia nicht daran interessiert und fand das alles prähistorisch, grotesk und barbarisch. Aber in Stierkämpfe wurde reichlich Geld investiert, und noch immer füllten vor allem Spanier in der Saison die Arenen.
Don Alfonzo sagte: »Beim dritten Stier wird sich ein Mann meines Alters auf den Platz neben dir setzen. Er hat die Sonntagsbeilage von El Pais in der Hand. Hör zu, was er dir zu sagen hat.«
»Wer ist er?«
»Sagen wir, er arbeitet für den Staat. Sagen wir, er ist einmal mein Schüler gewesen. Sagen wir, er hat Informationen, die nur er dir erzählen wird. Sagen wir, daß er uns auf dem langen Weg der Elimination einen Schritt weiterbringen kann.«
»Warum so verdeckt?«
»Weil er Schweigepflicht hat. Er tut mir einen Gefallen. Er bezahlt nur eine Schuld zurück, die einige Jahre offen gewesen war und Zinsen gebracht hat. Er hat Zugang zu einem Archiv, das offiziell nicht existiert. Das, wie die demokratische Regierung öffentlich erklärt hat, eingestampft werden sollte.
Dazu kam es nie, es wurde nur für alle geschlossen, außer für einen sehr begrenzten Personenkreis. Es ist ein Archiv wie dein Koffer. Es enthält Geschichten und Bilder aus der Vergangenheit, und viele wünschen es nicht zu öffnen, weil sie Angst davor haben, was darin verborgen sein könnte.«
»Warum?«
»Weil die Vergangenheit den Menschen gern einholt, wenn es am ungelegensten ist, und das Geschehene im heutigen Licht eigentlich unverständlich und sinnlos erschwert. Weil das, was einmal Sinn ergeben hat, heute nicht notwendigerweise den gleichen Sinn ergibt. Wenn wir zu den letzten fünfzig Jahren genug Abstand gewonnen haben, dann kann dieses Archiv Spaniens unruhige Geschichte erhellen. Die heimlichen Absprachen, die Franco im Namen des Antikommunismus mit den USA einging. Er sicherte sein Überleben, während Hitler und Mussolini untergingen, und die USA erhielten Stützpunkte und ein südliches Bollwerk gegen den Bolschewismus. Der schmutzige Krieg gegen die Menschen, die den Staat stürzen wollten. Die Rolle des Königs im Putschversuch 1981. Die innersten Gedanken des Militärs beim Abgang des Caudillos.
Porträts von Menschen, die unsere Nation im Lauf der Jahre besucht haben und sich in Spanien aufhielten.«
Er war ein alter Mann und drückte sich kryptisch aus. Aber das lag ihm im Blut. Die vielen Jahre in den düsteren Korridoren des Geheimdienstes hatten ihn der Fähigkeit beraubt, irgend etwas geradeheraus zu sagen. Informationen waren wie Rentenpapiere.
Man mußte die Mittel sparsam verwenden und nicht auf einmal, wenn der Herr einen schon lange leben ließ. Sie durften nicht in die Menge geworfen, sondern mußten nach und nach verkauft werden. Information sollte nicht jedermanns Eigentum sein und nur im engsten Kreise zirkulieren, der vom Geheimnisaustausch lebte. So verliefen seine Gedanken, und er würde sich nicht mehr ändern. Die jahrelange Kriegsführung an einer unsichtbaren Front, an der Geheimnisse existieren, damit andere sie zu enthüllen und wieder zu verbergen trachten, hatte ihn für sein Leben geprägt.
»Wo ist mein Koffer?« fragte ich bloß.
»Komm. Gehen wir in den Garten«, sagte er. »Die Sonne geht unter. Für einen alten Mann ist das ein wenig traurig, denn so geht noch ein Tag zur Neige, und man weiß, daß kaum mehr viele zu zählen übrigbleiben.«
11
Er
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