Der Augenblick der Wahrheit
holte ein Bier und eine Cola aus dem Kühlschrank und ging zur Terrasse.
»Ich würde lieber ein Bier haben«, sagte ich.
Er warf mir einen Blick zu, sagte aber nichts. Statt dessen brachte er die rot-weiße Dose zurück und griff noch ein Bier.
Wir setzten uns unter den Sonnenschirm. Die Hitze war drückend, und ich schwitzte, während Don Alfonzo in seinem weißen kurzärmligen Polohemd und seiner hellen Sommerhose ganz der unerschütterliche, kühle Alte war, dem die Hitze überhaupt nichts auszumachen schien. Das schwach hellgrüne, kalte Alquilabier schmeckte bitter und frisch. Es war mein erstes Bier seit acht Jahren, und der Geschmack war wie damals, als man in der unschuldigen Jugend anfing, Bier zu trinken: eher ungewöhnlich als wohlschmeckend. Ich hatte mich an die süße Cola gewöhnt, aber ich trank die Hälfte der Flasche in einem Zug und spürte die Wirkung beinahe auf der Stelle. Ich fand es gut, und gleichzeitig verachtete ich mich für meine Schwachheit. Aber ich versuchte, es zu verdrängen, und erzählte Don Alfonzo von den letzten Tagen. Ich ließ nichts aus und gab auch zu, nicht zu wissen, was ich den drei Schlägern verraten hatte, aber nun war es ja klar, daß ich seinen Namen genannt und von dem Koffer erzählt hatte.
»Woher wußten sie überhaupt von dem Koffer?« schloß ich meinen Bericht.
Er trank sein Bier auch aus und holte noch zwei.
»Wer weiß sonst noch davon?« fragte er.
»Du, Oscar, Gloria …«, sagte ich und kam bei dem Gedanken ins Stocken.
Aber er blieb unbeirrt und sagte mit seiner leisen Stimme, die einem ständig geschärfte Aufmerksamkeit abverlangte: »Du betrügst dich selbst, Pedro. Ich wußte seit Jahren davon. Bevor du mich gebeten hast, darauf achtzugeben …«
»Unmöglich«, sagte ich.
Er fixierte mich.
»Trinker haben wenig Geheimnisse«, sagte er dann.
Ich merkte, wie ich über und über rot wurde wie ein pubertierender Schüler, der beim Blick auf den Busen der Lehrerin erwischt wird. Er hatte zweifellos recht. Leider konnte ich mich gut an nächtliche, lautstarke Gespräche erinnern, wo ich mit einem sicher verwahrten Koffer geprahlt hatte, der meine Lebensversicherung sei. Aber ich wußte, daß ich nie erzählt hatte, daß er auch mein privates Tagebuch war und ich ihn als meine Büchse der Pandora ansah: Wenn ich ihn einmal öffnete, könnte er nicht mehr geschlossen werden und alle Geheimnisse würden entweichen. Daß er ein Teil meines Aberglaubens war, mein heidnischer Altar, der rational nicht erklärt werden konnte und durfte. Er war meine mystische fünfte Dimension in einer gottlosen Welt. Ein Talisman, der wie eine Kaninchenpfote in der Hosentasche funktionierte.
Ich mußte daran denken, daß Gloria überrascht gewirkt hatte, als sie von ausgewählten aufbewahrten Bildern hörte. Sie hatte also früher nichts von ihrer Existenz gewußt? Oscar vielleicht?
Oscar und ich hatten soviel Zeit miteinander verbracht, daß es nur verständlich gewesen wäre, wenn ich mit ihm im Suff darüber geredet hätte. Aber in dem duftenden, heißen Garten ging mir auf: Gerade das hatte ich nicht getan. Ich hatte bei Fremden und Halbfremden damit geprahlt, besonders bei Frauen, mit denen ich ins Bett wollte, aber nie bei Gloria und Oscar. Wir kannten uns zu gut. Wir konnten uns nicht verstellen.
Wir wollten uns nicht verstellen. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander, dachten wir, und gerade deswegen habe ich ein Geheimnis vor ihnen bewahrt, aber nicht vor Don Alfonzo. Falls er es nicht von anderer Seite erfahren hatte. Falls er es nicht wußte, weil ich überwacht worden war.
»Bin ich früher überwacht worden?« fragte ich.
Er schaute mich mit seinen klugen, melancholischen Augen an. Sogar heute haßte er es noch, Geheimnisse preiszugeben.
»Wir haben alle potentiellen Gefahrenquellen überwacht.«
»War ich auch eine?«
»Du warst links und hast mit linksgerichteten Elementen verkehrt.«
»Elementen?«
»›Elemente‹ ist doch ein sehr gutes Wort.«
Plötzlich war es mir klar.
»Du hast mich überprüft, als es zwischen Amelia und mir ernst wurde?«
»Ich habe getan, was jeder verantwortungsvolle Vater für sein einziges Kind tun würde …«
»Und zwar?«
»Mir meinen zukünftigen Schwiegersohn näher anzusehen.«
»Was gerade damals keinen schönen Anblick bot.«
Er lächelte wieder und legte überraschend seine trockene, feingliedrige Hand auf meine.
»Pedro, manchmal sehe ich in meinem Treibhaus eine Orchidee, die eher
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