Der Augenblick der Wahrheit
struppigem Unkraut gleicht, aber darunter erkenne ich den Keim einer Blüte, vielleicht nicht von umwerfender Schönheit, aber doch von einer Kraft, die ich durch Liebe und Fürsorge hervorlocken kann.«
»Das glaubst du doch selber nicht, Schwiegervater«, sagte ich.
Ich benutze das Wort sonst nie.
»Du bist ein guter Schwiegersohn geworden.«
»Und du hast mich unter die Lupe genommen und gehört, was ich zum Beispiel über meinen Koffer gesagt habe. Und hast herausgefunden, daß ich zwar ein Trunkenbold war, aber weder arm noch Kommunist.«
»Ich fand dich letzten Endes dazu geeignet, Amelia zu bekommen.«
»Und wenn das nicht der Fall gewesen wäre?«
Jetzt lachte er laut.
»Dann hätte dich meine verliebte, halsstarrige Tochter trotzdem genommen. Die alten Zeiten waren auch damals schon längst vorbei.«
»Ja. Die alten Zeiten sind vorbei«, sagte ich.
Schweigend saßen wir mit unseren Erinnerungen da. Es gab nichts zu sagen. Wir hatten alles schon hundertmal gesagt.
»Haben sie ihn? Den Koffer?« fragte ich statt dessen.
»Nein, sie haben ihn nicht.«
»Wo ist er? Wo sind meine Bilder?«
»Später«, sagte er.
Im Haus lief wieder der Staubsauger, und wir hörten ein Poltern und Planschen, ein Klirren und Klappern von den drei Frauen, die aufräumten und wegwarfen und alles wieder an seinen Platz stellten. Dona Carmens laute Stimme bellte den beiden jungen Mädchen Befehle zu, und man konnte sich vorstellen, wie sie sprangen. Es war enervierend und gemütlich zugleich.
»Wir kommen immer wieder auf den Minister«, sagte ich.
»Die Basken sind es nicht. Davon bin ich überzeugt. Wer ist es dann? Und warum? Der Minister? Die Bilder sind doch veröffentlicht worden. Die Fotos von ihm und dieser Italienerin liegen in allen Redaktionen der ganzen Welt. Also warum sollte er mich weiter verfolgen? Und ich hatte doch vor, ein Geschäft mit ihm zu machen. Also warum sollte er jemanden mit einem Einbruch beauftragen? Und meine Frau und mein Kind töten?
Das ergibt keinen Sinn und trotzdem …«
Ich hielt inne. Ein Schatten war über das Gesicht des alten Mannes geglitten, als ich seine Tochter und seine Enkelin erwähnte, und auch ich spürte die bekannte, lastende Trauer wie einen Stich ins Herz. Die tiefe Sehnsucht, die nicht zu ertragen war und die körperlich mehr schmerzte als all meine blauen Flecken.
»Rache vielleicht«, sagte Don Alfonzo. »Vielleicht die gute alte Rache eines stolzen Latinos, dessen Ehre du befleckt hast.«
Ich mußte über sein altmodisches Wort lächeln.
»Don Alfonzo, Spanien ist eine moderne Nation. Die alte Zeit ist vorbei, hast du selber gesagt. Wir sind nicht in Sizilien.«
»Pedro, im Charakter des spanischen Mannes steckt noch immer viel Sizilianisches oder Maurisches. Und er hat den Apparat hinter sich. Wenn sie Geheimkommandos losschicken konnten, um baskische Terroristen hinzurichten, können sie sich auch an einem ausländischen Fotografen rächen, der die persönliche Ehre eines Señors gekränkt, sein Familienleben zerstört, der Regierung geschadet und Spanien entwürdigt hat.«
»Ist das der Zusammenhang? Hast du das in den letzten paar Tagen herausgefunden?«
»Nein. Daß es so zusammenhängen könnte, war eigentlich mein Ausgangspunkt. Ich bin ein alter Mann aus einer vergangenen Zeit, wie du sagst, für mich hatte das also auch einen moralischen Sinn. Ich hätte den Beweggrund verstanden, auch wenn ich ihn verurteile. Vielleicht war ich deswegen ein guter Ermittler, weil ich immer versucht habe, die Beweggründe des Verbrechers zu verstehen, seine Motive, und indem ich wie die Gegenseite dachte, gelang es mir oft, einen Anschlag gegen die Sicherheit des Staates zu verhindern.«
»Das heißt, du glaubst nicht daran?«
»Ich weiß, daß es nicht so ist.«
»Wie dann?«
Er sah mich an.
»Ich gebe dem Terroristen recht. Als er sagte, die Antwort liege in einem deiner Fotos. Man kann es auch anders sagen.
Wir haben die falschen Fragen gestellt, weil wir unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenwart statt auf die Vergangenheit gerichtet haben. Da unser beider Unglück in der Gegenwart liegt, sind wir auch davon ausgegangen, daß die Ursache in unserem heutigen Leben zu finden ist, aber das braucht nicht unbedingt richtig zu sein.«
»Ich weiß nicht, was es sonst sein sollte«, sagte ich und steckte mir noch eine Zigarette an.
»Das weiß ich auch nicht, aber jede Ermittlung besteht darin zu eliminieren – um so, falls man Glück und Können besitzt,
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