Der Augenjäger / Psychothriller
wurde, bis es schließlich am Fuße angelangt zu einem Urschrei anschwoll, der sich aus den schrecklichsten Alpträumen zu speisen schien. Erst als der Schrei in ein gedehntes Kreischen überging, hatte Alina begriffen, dass hier eine Frau den schlimmsten Qualen ihres Lebens ausgesetzt wurde.
»Großer Gott, was macht er mit ihr?«
»In diesem Moment?« Stoya hatte das Band wieder gestoppt. »Gar nichts. So klingen Sukers Opfer, wenn er längst fertig mit ihnen ist. Die Frau, die sie eben hörten, heißt Tamara Schlier. Sein fünftes Opfer. Wie alle anderen zuvor hat Suker sie entführt und an einen Ort verbracht, den wir nicht kennen. Wir wissen nur, dass er wie ein Operationssaal eingerichtet sein muss.«
Alina hatte abwehrend die Hand gehoben, doch Stoya sprach unbeirrt weiter.
»Tagsüber behandelt er den grauen Star seiner Patienten. Nachts schneidet er seinen Opfern die Augenlider ab. Dann vergewaltigt er sie. Wenn er genug von ihnen hat, setzt er sie am Hintereingang eines Pornokinos, eines Bordells oder in der Nähe eines Straßenstrichs aus. Kein Wunder, dass sich alle das Leben genommen haben, sobald sie dazu körperlich wieder in der Lage waren.«
»Ich will das nicht hören«, hatte Alina gebeten.
»Tamara Schlier hatte Glück, wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von Glück sprechen kann. Sie wurde rechtzeitig gefunden, bevor sie den Abflussreiniger trinken konnte. Sie ist unsere Kronzeugin. Es wird Wochen dauern, bis sie in der Lage ist, eine brauchbare Aussage zu machen.«
Stoya hatte erneut das Band gestartet. Wieder zerrte das oszillierende Kreischen der Frau an den Lautsprechern, und wieder quoll ein aus Angst und Qualen gewebter Geräuschteppich aus dem Kassettenrekorder.
»So klang Tamara Schlier bei ihrer ersten Befragung«, hatte Stoya gesagt und dabei die Schreie leiser gedreht, als wären sie ein Song im Radio. »Suker ist geschickt. Keine Fingerabdrücke, keine DNA -Spuren, alle Vergewaltigungen mit Kondom. Nach einem anonymen Hinweis haben wir ihn mehrere Monate überwacht, aber nichts vor Gericht Verwertbares gefunden. Nur Indizien, die gegen ihn sprechen, doch mit Tamara haben wir endlich eine überlebende Zeugin, und wir sind uns sicher, dass sie Suker identifizieren wird.«
»Okay, das ist grauenhaft«, hatte Alina gesagt. »Aber ich verstehe nicht, weshalb ich in dieser Sache vorgeladen wurde.«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie tatsächlich keine Ahnung gehabt. Dann endlich ließ Stoya die Bombe platzen: »Wir müssen Suker in einer Woche entlassen.«
»Bitte?«
»Tamara Schlier ist verschwunden. Die gesamte Anklage baut auf ihrer Aussage auf. Wir haben ansonsten keine Beweise, die es rechtfertigen würden, Suker auch nur einen Tag länger in U-Haft zu halten. Unsere Kronzeugin ist wie vom Erdboden verschluckt, und darüber hinaus haben wir nichts gegen das Schwein in der Hand.«
Das alles musste Alina sich wieder ins Gedächtnis rufen, um nicht kehrtzumachen und sofort das Behandlungszimmer zu verlassen. Seit Zorbachs Selbstmord hatte sie sich geschworen, nie wieder das Schicksal auf die Probe zu stellen und
ES
zu tun, zumal sie sich selbst nicht im Klaren darüber war, ob sie wirklich über
ES
verfügte. Und wenn doch, hatten die medialen Fähigkeiten, die die Presse ihr zuschrieb, bislang mehr geschadet als genützt: Zorbachs Frau war ermordet worden, er selbst hatte sich den Kopf weggeschossen, und die Polizei suchte noch immer nach Julians Leiche. Doch wenn es irgendwie in ihrer Macht stand, zu verhindern, dass in wenigen Tagen ein gefährlicher Triebtäter wieder auf freien Fuß kam, musste sie über ihren Schatten springen.
»Nein«, beantwortete Alina nach langem Schweigen Sukers Frage.
Nein. Ich kann nicht in Ihre Vergangenheit sehen.
Die Antwort war nicht einmal gelogen, allenfalls eine Halbwahrheit. Um ganz ehrlich zu sein, hätte Alina zugeben müssen, dass sie selbst nicht wusste, was passieren würde, sobald sie Suker massiert.
Früher, vor ihrer Begegnung mit dem Augensammler, hatte sie tatsächlich geglaubt, nein befürchtet, unter bestimmten Voraussetzungen in die Vergangenheit eines Menschen sehen zu können, wenn sie ihn berührte. Die Visionen, die wie schlecht geschnittene Filmausschnitte vor ihrem geistigen Auge aufblitzten, waren zum ersten Mal über sie hereingebrochen, nachdem sie als Kind von einem betrunkenen Autofahrer erfasst worden war. Als der Mann ihr aufhalf und sie sich auf ihr verletztes Bein stützen wollte, mischte sich ein
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