Der Augenjäger / Psychothriller
an den Kindern? An meiner Frau?
»Quatsch. Ich habe niemandem geholfen. Frank hatte nie etwas mit unserem Spiel zu tun.«
Ich schloss die Augen.
Nein. Nein, das darf nicht sein …
»Aber er hat es doch gestanden«, krächzte ich atemlos.
Rufe vor dem Auto wurden laut. Irgendjemand gab mir über ein Megaphon die Anweisung, mich zu ergeben.
»Frank hat es mir gestanden!«, brüllte ich ins Telefon.
»Mit einer E-Mail, die jeder hätte schreiben und abschicken können?« Scholle lachte. Ich drückte Julian fester an mich und schrie: »Er hat mit mir telefoniert. Frank hat mich gezwungen, mir eine Kugel in den Kopf zu jagen.«
Damals, auf dem Schiff.
»Während ich neben ihm stand und deinem Sohn einen Revolver an den Schädel drückte. Ein falsches Wort, eine Abweichung von dem Drehbuch, das ich Frank vor die Nase hielt, und Julian wär die Schläfe weggeflogen.« Scholle hustete. »Aber du hast recht, er war erstaunlich überzeugend, vor allen Dingen bei dir im Haus, auch dank der Mittel, mit denen ich ihn ruhigstellte. Scheiße, weißt du eigentlich, wie teuer diese Spritzen sind?«
Ich schloss die Augen, wehrte mich gegen die Erinnerungen, die Scholles Worte in all ihrer Grausamkeit bestätigten.
Dass Franks Stimme anders als früher geklungen hatte, teilweise wie auf Drogen. Und dass er merkwürdige Worte in seine Sätze eingeflochten hatte:
»
Noch zappelt der
Fisch
in meinem
Netz
. Noch kann ich der
Polizei Hinweise
geben, wie sie Julian finden.
«
Wörter, die nur einen Zweck gehabt hatten –
Ein Fisch im Netz? Eine Scholle! –
Sie hatten mich warnen sollen, ohne meinen Sohn zu gefährden.
»Hinweise, die sein Leben retten. Hast du mich verstanden?«
Nein, hatte ich nicht. Ich hatte auch nicht richtig hingehört, als Frank zu mir sagte:
»Ach Mann, Zorbach. Immer noch der Profi, der alles hinterfragt. Der Mann, der erkennt, wenn er einen großen Fisch an der Angel hat, und die Kleinen laufenlässt, richtig?«
Nichts hatte ich erkannt. Blind vor Wut, vor Hass, vor Schmerz und Angst hatte ich den großen Fisch von der Angel gelassen.
»Wo steckst du?« Ich hörte ein gedämpftes Rauschen im Hintergrund, also nahm ich an, dass Scholle in einem Auto fuhr. Er begann zu husten.
Rechts neben mir nahm ich eine Bewegung wahr. Da ich davon ausging, dass die Polizisten gewaltsam in das Auto eindringen würden, klammerte ich mich nur noch fester um Julian, den ich um keinen Preis der Welt mehr loslassen wollte. Aber es war wieder Stoya, der sich dem Wagen näherte, mir die unbewaffneten Hände entgegenstreckte und auf den vorderen Beifahrersitz deutete.
Ich nickte ihm zu und löste die Zentralverriegelung.
Soll er doch einsteigen.
Solange mir niemand meinen Sohn mehr wegnahm, war mir alles gleichgültig.
Inzwischen hatte sich Scholles Hustenanfall wieder gelegt.
»Ich hab wenig Zeit«, keuchte er. »Es ist ein Wunder, dass ich so kurz nach meiner OP überhaupt unbemerkt aus dem Krankenhaus abhauen konnte, also verschwende unsere kostbare Zeit nicht mit Fragen zu meinem Aufenthaltsort, die ich ohnehin nicht beantworten werde.«
Stoya hatte vorsichtig die Tür aufgemacht und sich auf den Beifahrersitz gesetzt, die Beine immer noch außerhalb des Wagens. Er reichte mir eine Wärmedecke (offenbar hatte er gesehen, wie Julian sich in meinen Armen bewegt hatte), dazu einen Kopfhörer mit zwei Ohrstöpseln.
Zuerst verstand ich nicht, was er von mir wollte, bis er auf das Handy in meiner Hand zeigte und sich einen Finger auf die Lippen legte.
Er will mithören.
Ich breitete die Wärmedecke über Julian aus. Dann klinkte ich den Kopfhörer ein und reichte einen der Stöpsel nach vorne. Stoya gab den postierten Polizisten ein Zeichen, dass alles okay sei, zog leise die Beifahrertür zu und beugte sich mit seiner Hälfte des Kopfhörers im Ohr zu uns nach hinten.
»Hallo, bist du noch da?«, fragte Scholle.
Stoya sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich weiß bis heute nicht, was er gedacht hatte, welches Gespräch so wichtig gewesen sein konnte, dass ich trotz der Androhung massiver Polizeigewalt nicht hatte aus dem Auto steigen wollen.
Ganz sicher war er nicht darauf vorbereitet gewesen, die Stimme seines Partners zu hören.
»Dann bist du der Augensammler, Scholle?«, fragte ich, um die Wahrheit vor meinem Zeugen zu zementieren. »Dann hast du all die Kinder getötet. Und meine Frau?«
»Ja, ich war’s.«
Ich sah Stoya in die Augen. Im Gegensatz zu mir hielt er nichts in den Armen, das
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