Der Augenjäger / Psychothriller
hinterher, die sich endgültig zum Gehen entschlossen hatte. Sie stand kurz vor der Tür, die rechte Faust geballt.
»Ich bitte Sie, Alina. Nehmen Sie Ihre Brille ab und lassen Sie mich untersuchen, ob Sie für einen solchen Eingriff überhaupt in Frage kämen.«
Er kicherte, als sie gegen die Stahltür hämmerte. Die Beamten öffneten nicht schnell genug, und so musste sie auch seine letzten Sätze ertragen.
»Ein Blick auf Ihre Augen gegen einen Blick in meine Seele, Alina. Was haben Sie schon zu verlieren?«
7. Kapitel
Z wanzig Minuten später hörte sie immer noch den Nachhall von Sukers Angebot. Angewidert und fasziniert zugleich fiel es ihr schwer, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren.
»Stellen Sie sich vor … Sie könnten wieder sehen …«
Die Worte waren wie ein Ohrwurm, den man schon beim ersten Hören unerträglich findet und trotzdem nicht aus dem Kopf bekommt.
»Was haben Sie schon zu verlieren?«
Alina dachte an die weiche Stimme, an den verschwörerischen Unterton, mit dem der sadistische Psychopath versucht hatte, den Keim einer unerfüllbaren Hoffnung in ihr zu säen. In Gedanken versunken, trat sie an die Ampel Brunnenstraße Ecke Bernauer, als plötzlich mehrere Dinge gleichzeitig geschahen. Zuerst vibrierte ihr Handy. Noch bevor sie es aus der Tasche gezogen hatte, um sich die eingegangene SMS vorlesen zu lassen, wurde sie von einer kräftigen Hand gepackt. Der Atem des Mannes ging schwer, sie roch den Tabak, der sich in einem dicken Wintermantel verfangen hatte, und sie spürte den festen Griff am Oberarm, mit dem sie gegen ihren Willen auf die Straße gerissen wurde.
Nein, nicht schon wieder,
dachte sie. Dieser Mist passierte ihr nun schon zum zweiten Mal in diesem Winter. Sie stand am Bürgersteig, die Ampel sprang auf Grün, und ein Passant fühlte sich berufen, die Blinde mit dem Langstock über die Straße zu zerren.
Berlin erlebte gerade die härteste Kälteperiode seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. In der Nacht sanken die Temperaturen auf minus zwanzig Grad, was den vierten Obdachlosen in Folge das Leben gekostet hatte. Der Stadtreinigung war das Salz ausgegangen, nicht einmal mehr die Hauptverkehrsstraßen wurden gestreut; Bürgersteige machten schon seit Wochen Eislaufbahnen Konkurrenz, und überall türmten sich verdreckte Schneeberge. Der tägliche Arbeitsweg war zum Überlebenstraining geworden, und daher hatte Alina gegen eine helfende Hand grundsätzlich nichts einzuwenden. Wohl aber gegen eine Entführung.
In ihrem blinden Bekanntenkreis gab es keinen, der nicht schon mal »Entführungsopfer« gewesen war. Es mochte ja sein, dass sie einen hilfsbedürftigen Eindruck gemacht hatte, als sie eben auf der vereisten Mittelinsel in ihrem Rucksack nach dem Telefon kramte. Und der Passant wusste sicher nichts von dem Orientierungstraining, dank dem sie sich auch bei schlechtem Wetter in ihrer Umgebung zurechtfand. Aber was für Zeichen sandte sie aus, die einem Sehenden signalisierten, man könne sie wie ein Tier an die Leine legen? Nur einmal hatte ein Kind höflich gefragt, ob Alina sich verlaufen habe. Alle anderen »Helfer« waren vermutlich der Meinung, sie wäre nicht nur blind, sondern auch blöd und daher ohnehin nicht zu einer Unterhaltung fähig.
»Das ist nicht nötig, danke sehr.« Alina versuchte, sich aus der Umklammerung des Mannes zu befreien, der sie zielstrebig über die rutschige Kreuzung führen wollte; immerhin in die richtige Richtung. Nicht selten verschlimmerte der Eifer der ungebetenen Helfer die Orientierungslosigkeit der Blinden, die sich nach dem Übergriff irgendwo ausgesetzt fanden, wo sie nie hingewollt hatten.
»Ich schaffe das alleine, danke sehr.«
Wie befürchtet, zeigte ihr sanfter Protest keine Wirkung. Der Mann blieb stumm, sein Griff wurde stärker, und so blieben ihr nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie fügte sich und müsste sich weiter von dem Unbekannten wie eine quengelnde Dreijährige über die eis- und rollsplittverkrustete Straße ziehen lassen. Oder es würde unangenehm werden.
Alina entschied sich für Letzteres und plazierte ihren Langstock. Der Mann ließ sofort von ihr ab und jaulte auf. Vielmehr quiekte er, was ihr ein Lächeln abrang. Sein helles Quieken klang so unmännlich und völlig unpassend für einen Kerl, den Alina anhand seiner voluminösen Atemgeräusche und der Größe seiner Hände auf mindestens hundert Kilo und zirka einen Meter neunzig schätzte.
»Oh, das tut mir aber leid«, heuchelte Alina.
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