Der Augenjäger / Psychothriller
ungestüm und stümperhaft vorgenommen haben, wie man der Presse entnehmen konnte?«
Alina schluckte. »Taktik? Sie wussten, genau diese Unlogik würde später Zweifel bei den Richtern säen.«
»Ich bitte Sie. Ich wurde drei Mal in Folge vom internationalen Verband der Augenärzte zum besten Chirurgen Europas gewählt. Für meine Leistungen wurde ich mit der Ehrenprofessur der Harvard Medical School ausgezeichnet. Ich weiß nicht, wie ich es formulieren kann, ohne angeberisch zu klingen, aber wenn Lang Lang sich mit Absicht vergreifen würde, klänge sein Klavierspiel noch immer wie ein Meisterwerk. Wahre Kunst lässt sich nicht unterdrücken, mein Kind. Selbst wenn ich eine Woche nicht geschlafen und mich sinnlos betrunken hätte, um absichtlich mit zittrigen Händen im Dunkeln zu operieren, könnten Sie den Eingriff immer noch als Anschauungsfilm für Medizinstudenten verwenden.«
Er berührte sie am Oberarm, und sie zuckte zusammen.
»Schauen Sie, Alina. Wir beide wissen, weshalb Sie hier sind. Es gibt keine Zeugen, keine Beweise. Der Staatsanwalt kann mich nicht länger in Haft halten, und mittlerweile sind die Beamten so verzweifelt, dass sie sich an den letzten lächerlichen Strohhalm klammern. An Sie! Sie sollen mich berühren und die Behörden durch Ihre Visionen, die Sie angeblich überkommen, zu verwertbaren Beweismitteln führen.«
»Und wenn es so wäre? Was spricht dagegen, wenn Sie doch unschuldig sind?« Zu ihrer Verwunderung bekam Alina eine Antwort auf ihre rhetorische Frage.
»Nichts. Sie haben recht.«
»Dann darf ich Sie also behandeln?«
»Ja.«
»Das glaube ich Ihnen nicht«, sagte Alina, erstaunt über die Wendung, die das Gespräch so plötzlich genommen hatte.
»Nur zu, fassen Sie mich an, massieren Sie mich. Stimulieren Sie meine Meridiane. Und dann eilen Sie husch, husch zu Stoya und beschreiben ihm, was Sie gefühlt haben. Wer weiß, vielleicht bin ich ja doch ein ganz schlimmer Finger, und Sie
sehen …
«, er sprach das Wort aus, als wollte er es in Anführungszeichen setzen, »…
sehen
den Weg zu meiner bislang unentdeckten Folterkammer. Oder Sie erkennen das Bodenbrett, unter dem das Skalpell liegt, das weder bei meiner Haus- noch bei der Praxisdurchsuchung gefunden wurde.«
Alina hörte wieder das Geräusch des knautschenden Kunststoffleders. Suker war zurück zur Liege gegangen und legte sich darauf.
»Ich habe nur eine einzige Bedingung.«
Na klar. Der Teufel schlägt immer einen Pakt vor.
»Und die wäre?«
»Nehmen Sie Ihre Brille ab, mein Kind. Ich will Ihre Augen sehen.«
Sie seufzte. Das alles hier ergab keinen Sinn. Der Irre wollte nur mit ihr spielen. »Sie sind ein selbstgefälliges Arschloch.«
»Nein. Wenn überhaupt, bin ich ein sehr fähiges Arschloch, und ich könnte es Ihnen beweisen. Sehen Sie, ich bin mir sicher, Sie haben die Hälfte Ihrer Kindheit bei Augenärzten verbracht. Und jeder dieser sogenannten Spezialisten hat Ihnen erklärt, dass Sie nie wieder in Ihrem Leben werden sehen können, weil es für Patienten wie Sie, bei denen die komplette Hornhaut zerstört ist, keine Heilungsmöglichkeiten gibt, richtig?«
»Und wenn es so wäre?«
»Dann hätten Sie Ihre Zeit mit Quacksalbern verplempert. Denn diese Ärzte irren. In seltenen Fällen und unter besonderen Umständen kann eine Transplantation von Erfolg gekrönt sein. Und gerade Chemieunfälle wie der Ihre zählen dazu. Es hängt natürlich vom Spendermaterial ab und von der ruhigen Hand des Chirurgen, der in einer zweistufigen Operation zunächst einen Hornhautrand transplantieren müsste, der nur wenige hundertstel Millimeter dick ist. Auf der ganzen Welt sind mir nicht mehr als eine Handvoll Ärzte bekannt, die dazu in der Lage wären. Und nur einer von denen kann Ihnen garantieren, dass es funktioniert.«
»Lassen Sie mich raten«, lachte Alina, etwas weniger höhnisch als beabsichtigt.
»Ja,
ich
«, sagte Suker. »Und glücklicherweise kann ich ab nächster Woche wieder Termine entgegennehmen, sobald ich diesen unwirtlichen Ort verlassen habe. Als freier Mann.« Er schnalzte selbstzufrieden mit der Zunge. »Ich spüre, Sie können mich nicht leiden, Alina. Aber ich kann Ihnen etwas geben, was Sie sich schon immer gewünscht haben. Stellen Sie sich vor, Sie würden nach dreiundzwanzig Jahren zum ersten Mal Ihre Augen aufschlagen und könnten wieder sehen.«
Seine Stimme klang so weich wie zu Beginn ihres Gesprächs.
»Kommen Sie, geben Sie sich einen Ruck«, rief er Alina
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