Der Augenjäger / Psychothriller
Meinung geändert hat.«
»Mithilfe wobei?«
»Was wissen Sie über multiple Persönlichkeiten, Frau Gregoriev?«
Sie verfielen in einen langsameren Schritt, wie Menschen, die den Punkt schon sehen können, an dem sie getrennte Wege gehen werden, und den Moment des Abschieds hinauszögern wollen. Vermutlich waren sie in der Radiologie angelangt. In einem der hinteren Räume, auf die sie zugingen, musste ein großes elektronisches Gerät stehen, das gerade in Betrieb war. Alina tippte auf einen Kernspintomographen, obwohl das Brummen und Zischen heller klang, als sie es von den Untersuchungen her kannte, bei denen man sie selbst in die Röhre geschoben hatte.
»Ich hab den Film
Identität
gesehen«, beantwortete sie Roths Frage.
»Gesehen?«
»Ja, aber bevor Sie mir gleich wieder eine Kapuze über den Kopf zerren, nur weil Sie denken, ich simuliere, kann ich Sie beruhigen: Viele Blinde gehen ins Kino. Zugegeben, das macht bei dialoglastigen Filmen etwas mehr Spaß als bei Naturdokus.«
»Wieder was gelernt«, bedankte sich Roth und bat Alina, einen Schritt nach links zu treten, um einem Essenswagen auszuweichen. Dem Geruch nach passierten sie eine Küche, und Alinas Magen meldete sich.
Sie hatte Hunger, musste pinkeln und wollte eine Zigarette. Am liebsten alles auf einmal. Langsam kannte sie die Reaktionen ihres Körpers, der nach Stresssituationen, in denen sie sich dem Tode nahe gefühlt hatte, nach Wiederbelebungsmaßnahmen schrie: am besten in Form von Essen, legalen Rauschmitteln oder Sex, wobei Letzteres auf ihrer Prioritätenliste vom ersten auf einen nicht messbaren Platz nach hinten gerutscht war. Früher war es für sie ganz natürlich gewesen, mit jedem zu schlafen, der sie näher interessierte. Egal, ob Mann oder Frau, jung oder alt. Das war ihre bevorzugte Herangehensweise gewesen, sich von den Menschen ein Bild zu machen. Aber seit den Tagen des Augensammlers hatte sich alles verändert. Sie hatte einen Freund verloren, den sie kaum kannte und dennoch jeden Tag vermisste, als wäre ihr mit seinem Tod ein Teil ihrer Seele amputiert worden. Scheinbar war ihre Fähigkeit, Gefühle zuzulassen, mit Zorbach beerdigt worden. Seit seinem Tod hatte sie nicht mehr geweint. Weder an seinem Grab noch in den Tagen nach der Beerdigung. Und erst recht hatte sie seitdem keine Lust mehr auf körperliche Begegnungen, weder im Bett noch beim Shiatsu mit Schwerverbrechern oder geistig verwirrten Zeugen.
Sie blieben stehen, und Roth legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Also, wenn Ihr Wissensstand über multiple Persönlichkeiten nicht über den eines Hollywood-Drehbuchautors hinausgeht, fürchte ich, wird das, was sich hinter dieser Tür verbirgt, ein Schock für Sie sein, Frau Gregoriev.«
17. Kapitel
A lina hielt die Luft an, weil sie besser hören konnte, wenn sie ihre Atemgeräusche ausblendete, und musste ihren ersten Eindruck über die Lärmquelle im Inneren des Raumes korrigieren. Hinter der Zimmertür stand unter Garantie kein großes technisches Gerät und schon gar kein Kernspintomograph, dafür waren die Laute viel zu konstant.
»Hört sich an, als ob da drinnen jemand sein Radio nicht richtig eingestellt hat«, mutmaßte sie.
»Genauso ist es.«
Roth öffnete die Tür, und es wurde laut. Ein verzerrter Mischmasch unverständlicher Musik- und Wortfetzen überschlug sich unterhalb eines Teppichs atmosphärischer Zisch- und Störgeräusche.
»Der Radioapparat in diesem Zimmer ist auf UKW eingestellt, exakt 105.3 Megahertz, womit er sich zwischen den Sendern 104.6 und 105.5 befindet, also irgendwo im ätherischen Niemandsland.«
»Und wozu?«, fragte Alina verärgert.
»Um den Patienten ruhigzustellen. Das Radio läuft den ganzen Tag und darf niemals verstellt oder gar abgeschaltet werden.«
»Sonst passiert was?«, wollte Alina fragen, doch in diesem Moment fing ihre Nase einen vertrauten Geruch ein.
»Moment mal, sagten Sie eben
den Patienten?
«, flüsterte sie entsetzt.
»Ja, wieso fragen Sie?«
Roth griff nach ihrem Arm. »Ach du meine Güte, jetzt sagen Sie bitte nicht, dass …«
Er begann hilflos zu stottern. »Ich dachte, also, das tut mir sehr leid, aber …«
Alina wehrte die Hand des Arztes ab und betrat das Krankenzimmer.
»Entschuldigung, das wusste ich wirklich nicht«, hörte sie den Psychiater aufgeregt stammeln. Er klang aufrichtig, sein bedauerndes Entsetzen war nicht gespielt. »Ich habe gedacht, Stoyas Geheimniskrämerei bezog sich nur auf den Aufenthaltsort
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