Der Augenjäger / Psychothriller
fensterlosen Mercedes-Transporters gestiegen, der laut Roth mit der Aufschrift:
Feinkost-Lieferdienst
beschriftet war. »Wir hätten auch
Cashmere-Wäscheservice
draufschreiben können, das ist hier in dieser Gegend genauso unauffällig«, hörte sie Roth noch witzeln, dann schlugen die Türen des Transporters zu, und das Fahrzeug fuhr los. Ursprünglich sollte der Fahrer sie bis zu ihrer Wohnung nach Mitte bringen, aber Alina wurde mit einem Mal schlecht, und sie bat, bei der nächsten Gelegenheit rausgelassen zu werden.
Der Transporter hatte am Straßenrand gestoppt, etwa hundert Meter von der Kneipe entfernt, in der Alina sich gerade ein großes Mineralwasser ohne Kohlensäure bestellte, während sie erwog, Stoya noch heute die Wahrheit zu sagen. Nach dem verstörenden Wiedersehen mit Zorbach zweifelte sie stark daran, dass dieser mit den Informationen, die sie während Sukers Behandlung »erfahren« hatte, etwas würde anfangen können. Möglicherweise aber konnten ihre Wahrnehmungen eine Entführung verhindern und somit das Leben einer ehemaligen Patientin retten.
Sie fasste den Entschluss, Stoya anzurufen. Zuvor bestellte sie noch eine Schale Wasser für TomTom, dem es wieder schlechter zu gehen schien. Dann stieg sie vom Barhocker – etwa zur gleichen Zeit, als Dr. Roth nur wenige Kilometer entfernt ein letztes Mal an diesem Abend bei Alexander Zorbach vorbeisah.
22. Kapitel
Alexander Zorbach (Ich)
I ch mag mich irren, aber der unerwartete Besuch scheint Ihnen gutgetan zu haben«, sagte der ahnungslose Dr. Roth, als er die Spritze mit dem Beruhigungsmittel aufzog.
Ich lag wieder im Bett und fühlte mich seit der Begegnung mit Alina, als hätte jedes einzelne ihrer Worte ein weiteres Geschoss durch meine Hirnmasse getrieben. Meine Schmerzen waren wieder so unerträglich wie in dem Moment des Aufwachens nach meiner ersten Operation, als mir bewusst wurde, dass ich überlebt hatte und damit das Todesurteil für meinen Sohn gefällt war.
»Fühlen Sie sich besser?«
»Besser?«, wollte ich grunzen. Mein Mund äußerte einen jener langgezogenen echolotartigen Urlaute, mit denen Gehörlose manchmal ihre Gebärdensprache untermalen. Roth unterlag der Fehldiagnose, ich wolle ihm ein positives Zeichen senden, und lächelte.
Besser? Na klar, Mann.
Meine Band spielte fast wieder auf voller Lautstärke, konnte er denn nicht spüren, wie meine Schädeldecke vibrierte? Das einzig Positive an meinem Zustand war, dass der Krach in meinem Kopf die bösen Geister abhielt. Julian würde mich heute garantiert nicht heimsuchen wollen.
»Sie wirken wacher, Ihr Blick ist klarer, wenn ich mich nicht täusche.«
Ich schnaubte abfällig, was Roth ebenfalls missverstand. »Gestatten Sie mir einen Test?«
Ich wollte lachen, wusste aber nicht mehr, wie das ging. Roth sprach mit mir, als hätte ich eine Wahl. Als würde er mir nicht sofort eine Spritze verpassen, wenn ich wieder randalierte.
Er ging zum Radio und drehte den Krach leiser, gegen den er die ganze Zeit über angeredet hatte. Als er merkte, dass ich mich weder aufbäumte noch eine Grimasse zog, wagte er es sogar, die Frequenz zu verstellen.
Mach, was du willst,
dachte ich erschöpft.
Meine Schmerzen sind intensiv genug. Heute brauche ich den Kasten nicht, um mir meine Dämonen vom Leib zu halten.
Er beobachtete mich eine Zeitlang, während das kleine Krankenzimmer von ungewohnt klarer, melancholischer Popmusik ausgefüllt wurde. Ich fühlte seinen starren Blick auf meinem Gesicht, der jede noch so winzige Veränderung registrieren wollte, und trotz meines Schmerzes, trotz meiner eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit bemerkte ich tatsächlich eine Veränderung in mir. Seitdem Roth das Radio verstellt hatte, verspürte ich ein Gefühl, von dem ich geglaubt hatte, es wäre gemeinsam mit meinem Lebenswillen gestorben: das Gefühl der Angst.
Ich begann mich zu fürchten und wusste nicht, wovor.
Now let your mind do the walking
And let my body do the talking
Der Gesang endete abrupt, bevor der Refrain begann, und meine Furcht wuchs. Ich wusste nicht, weshalb mir plötzlich so kalt war, denn Roth hatte das Fenster bereits geschlossen. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte den lächelnden Arzt vor einer drohenden Gefahr gewarnt, aber mir war nicht klar, vor welcher.
»Hilfe«, murmelte ich schwach, und es schien mir in diesem Moment das einzig Richtige, ohne zu wissen, weshalb. Denn irgendetwas an dem Moderator, der so fröhlich vor sich hin plapperte,
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