Der Augenjäger / Psychothriller
wieder in mein Bewusstsein zu kämpfen.
Wenn ich mich an jene Stunden vor der endgültigen Katastrophe zurückerinnere, neige ich dazu, meine Gedanken und Eindrücke chronologisch und geordnet darzustellen. In Wahrheit aber hingen in meinem Gehirn Abermillionen von Gedanken an losen Fäden, und mein Bewusstsein war wie eine verspielte Katze, die mit ihren krallenbewehrten Pfoten an ihnen zog und zerrte. Die meisten Fäden waren hoffnungslos verheddert, nur wenige nicht abgerissen, und so ergab mein Gedankenchaos nur selten einen Sinn. Ich dachte über Regenwürmer nach, die betrunken in einem Schnapsglas lagen, fragte mich nach der Uhrzeit in Chile und ob jemand daran gedacht hatte, mein Aquarium in meinem Kinderzimmer zu säubern, bis mir wieder einfiel, weshalb ich auf einem Rollstuhl sitzend durchs Krankenzimmer rollte. Verwirrte Momente folgten lichten Augenblicken, in denen ich erstaunlich klare Entschlüsse fassen konnte, bis sich entweder der Schmerz oder das Chaos zurückmeldete. Oder mein toter Sohn.
»Bleib bei mir, Papi. Bitte!«
Ich durchschaute Julians verzweifelten Versuch, mich von meinem Plan abzuhalten, wobei »Plan« eine viel zu hochtrabende Bezeichnung für meine lächerlichen Anstrengungen war. Ich wollte einfach nur hier raus, ohne genau zu wissen, wo ›hier‹ überhaupt war und wie ich als Schwerstbehinderter die zu erwartenden Sicherheitsvorkehrungen dieser Anstalt überwinden sollte. Immerhin kannte ich wenigstens mein Ziel, wenn auch nicht den Weg dorthin. Ich wollte zurück in meine Wohnung in Kreuzkölln, zu meinem Computer und meinem Handy. Ich musste endlich mit dem beginnen, was ich viel zu lange aufgeschoben hatte: mit der Suche nach Frank. Waren die meisten meiner Gedanken wirr und ungeordnet, ragte dieser eine fest und unverrückbar wie ein Granitfelsen aus dem dunklen Ozean meiner Seele hervor:
Ich werde Frank, den Mörder meines Sohnes, finden und töten.
»Aber ich bin nicht tot, Papi. Verlass mich nicht, bitte«,
flehte Julians Stimme, obwohl ich mir die Ohren zuhielt.
»Doch, das bist du. Leider.«
Ich wusste nicht, ob ich ernsthaft darüber nachgedacht hatte, aber ich spürte die unumstößliche Wahrheit. Mein Sohn lebte nicht mehr. Wenn es Alinas Absicht gewesen war, mir Hoffnung zu machen, so war es ihr nicht gelungen. Meine Tragödie hatte mich zum Realisten werden lassen, ich glaubte nicht mehr an ihre besonderen Fähigkeiten. Und selbst wenn. Sukers letzte Gedanken, die sie angeblich in ihren Visionen empfangen hatte –
Aber vielleicht ist das hier ja wirklich die gerechte Strafe für meine Schuld. Vielleicht hätte ich Julian … –,
bestätigten nur meine Gewissheit, dass mein Sohn schon lange ermordet und seine Leiche nur noch nicht gefunden worden war, genau so, wie Frank es für den Fall vorhergesagt hatte, dass wir versuchen würden, meinen Tod vorzutäuschen. Aber in welcher Verbindung stand Suker mit dem Augensammler?
Ich bekam einen Krampf in der linken Hand und musste eine Pause einlegen, bevor ich den widerspenstigen Rollstuhl weiter vorantreiben konnte.
Rückblickend betrachtet, benahm ich mich wie einst, als ich noch ein Junge gewesen war und meine Eltern damit hatte überraschen wollen, die neu gelieferte Wäschetruhe ganz alleine in den Keller gewuchtet zu haben. Ich war zwölf und hatte die Lieferung entgegengenommen, während Papa und Mama arbeiten waren. Als sie abends nach Hause kamen, war die Überraschung gelungen, wenn auch anders, als von mir beabsichtigt. Das Parkett, über das ich in völliger Selbstüberschätzung meiner Kräfte die Truhe gezerrt hatte, war aufgerissen und zersplittert, und das Ungetüm hatte es nicht bis in die Waschküche geschafft, sondern klemmte unverrückbar im Rahmen einer Durchgangstür.
Heute war ich zwar älter, aber nicht klüger geworden. Ich verausgabte mich nicht mehr mit einer Truhe, wohl aber mit einem anderen sperrigen Gegenstand, der schon lange nicht mehr so wollte wie ich: meinem Körper.
Der Wille versetzt Berge,
dachte ich und spürte den Schweiß an meinem Haaransatz, als ich das Gummirad des Rollstuhls wieder nach vorne drückte,
… und der Wahnsinn Rollstühle.
Ich wollte Frank töten, und dieser Rachewille war vermutlich durch eine weitere negative Emotion ausgelöst worden: meine Sorge um Alina. Ich wollte es mir in dieser Sekunde noch nicht eingestehen, dass es nach dem Tod meines Sohnes irgendetwas auf der Welt geben könnte, was mir wichtig wäre. Ich hätte es als Verrat an
Weitere Kostenlose Bücher