Der Augenjäger / Psychothriller
Julian empfunden. So war es wohl mein Unterbewusstsein, das entschieden hatte, nach meiner Freundin zu suchen, auch weil ich ahnte, dass sie und jener ominöse Suker die Schnittstelle bildeten, an der sich die Pfade des Bösen kreuzten.
»Nein, Papi, du irrst dich«,
beschwor mich die Stimme meines Sohnes.
»Ich lebe noch, nur in einer anderen Welt. Geh nicht weg, und ich zeige dir, wie du zu mir kommst, damit …«
Ich beugte den Kopf nach vorne, und eine Schmerzwelle wischte Julians unvollendeten Satz von der Tafel meines Bewusstseins. Als ich wieder aufsah, wunderte ich mich einen kurzen Moment über meine Umgebung. Aus dieser Perspektive hatte ich mein Krankenzimmer noch nie betrachtet.
Seit meiner Verletzung fehlte mir jegliches Zeitempfinden; es mochten Wochen vergangen sein, in denen ich auf meinem Bett gelegen und meiner näheren Umgebung keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, weil ich viel zu sehr mit meiner inneren Welt beschäftigt gewesen war. Die Außenwelt hatte hinter einer schallgedämpften Milchglasscheibe gelegen. Vermutlich gehörte es zum Selbstschutzmechanismus meines Gehirns, nirgends genauer hinzusehen. Hätte ich etwa über die Kunstblumen auf meinem Beistelltisch oder über die gestärkte Bettwäsche reflektiert, hätte ich mich auch der Tatsache stellen müssen, dass ich bis vorgestern meine Notdurft regelmäßig unter dem prüfenden Blick einer Schwester verrichten musste, die im Anschluss an die beschwerliche Prozedur erst meinen Hintern und dann meinen Penis mit Flüssigseife säuberte.
So kam es, dass ich den Kleiderschrank an der Wand zwar oft gesehen, aber noch nie bewusst zur Kenntnis genommen hatte. Als ich ihn jetzt zum ersten Mal öffnete, erwartete ich allenfalls einen Bademantel nebst Frotteeschlappen darin vorzufinden und war völlig verblüfft über die sorgsam verstauten Anziehsachen, die ich am Tage meines missglückten Selbstmords getragen hatte: die ausgebeulte Jeans, der armeegrüne Rollkragenpulli, die gefütterte Fliegerjacke und meine alten Timberland-Stiefel. Hemd und Hose hingen ordentlich aufgereiht auf Metallbügeln unter einer durchsichtigen Kunststofffolie; irgendjemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zur Reinigung zu bringen. Wenn Teile meines Gehirns oder des Schädelknochens darauf gelandet waren, ließ sich das jetzt nicht mehr feststellen.
Ich griff mir die Jacke und legte sie mir über die Knie. Die Stiefel stellte ich mir auf den Schoß. Den Pullover konnte ich vergessen. Allein die Vorstellung, meinen Kopf im Wundverband durch den engen Rollkragen zu zwängen, trieb mir Schweißperlen auf die Stirn.
Eine gefühlte Ewigkeit und etliche wirre Gedanken später hatte ich die Zimmertür geöffnet und schob mich rückwärts auf den Flur.
Der Gang lag im Halbdunkel und wurde lediglich von einigen Nachtlichtern beleuchtet, die in regelmäßigen Abständen in die Scheuerleisten eingelassen waren. Wenn es einen Bewegungsmelder gab, hatte ich mit meinem Rollstuhl bislang noch keine Lichtschranke überquert. Ich hörte ein Brummen, ähnlich dem eines alten Kühlschranks, und das Rauschen einer Belüftungsanlage.
Ich riskierte ein mittleres Beben unter meiner Schädeldecke, als ich nach oben sah, um nach Kameras Ausschau zu halten, doch alles, was ich bemerkte, waren unverkleidete Heizungsrohre und ein offenliegender Kabelstrang.
Keine Kamera, kein Glück,
sinnierte ich bedeutungsfrei und rollte los. Die Entscheidung, nach links zu fahren, traf ich instinktiv, vielleicht, weil der schmale Gang in dieser Richtung kürzer schien. Ein Exit-Schild war nirgends zu erkennen, nicht einmal das Piktogramm für einen Notausgang.
Wie komme ich Kranker raus aus diesem kranken Haus?,
dachte ich und machte den Satz zu einer Art Abzählreim, den ich stoisch vor mich hin murmelte, während sich meine linke Hand immer mehr verkrampfte. In den letzten Tagen war ich höchstens mal vom Bett zum Fenster gerollt, jetzt musste ich das Gefährt unter meinem Hintern dazu bewegen, eine enge Rechtskurve zu nehmen, weil der Gang vor mir im rechten Winkel abbog.
Ich verlagerte mein Gewicht und fuhr um die Ecke. Die Gummiräder des Rollis quietschten wie neue Turnschuhe auf dem Boden einer Sporthalle. Ich hatte höchstens zehn, fünfzehn Meter hinter mich gebracht, freute mich aber, als wäre ich gerade als Erster beim New-York-Marathon durchs Ziel gegangen.
Zehn Meter und kein Peter,
dachte ich, was wohl
Zehn Meter und niemand hat dich erwischt
bedeuten sollte. Kurz darauf kämpfte
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