Der Augenjäger / Psychothriller
sich ein bedrohlicher Gedanke durch das Dickicht meiner sinnlosen Reflexionen:
Was zum Teufel ist das?
Zwei von drei Nachtlichtern waren in diesem Abschnitt des Flurs ausgefallen, so dass ich das Hindernis, auf das ich zurollte, nicht sofort wahrgenommen hatte, doch jetzt war es nicht mehr zu übersehen. Mitten in den Gang hinein ragte eine dunkle, schwach flimmernde Wand.
Ich war so verblüfft, dass ich vergaß, langsamer zu werden. Der Boden verlief hier leicht abschüssig, weshalb ich immer mehr an Tempo zulegte. Meine Kombinationsfähigkeit hingegen schien ausgebremst zu sein, jedenfalls erkannte ich den Breitbildfernseher erst, als ich unmittelbar vor ihm anhielt.
Das Gerät war schwarz, aber nicht ausgeschaltet. Dafür war die Dunkelheit auf seiner Oberfläche zu hell und zu ungleichmäßig.
Ich rollte so nah heran, dass ich die Hände auf die staubfreie Oberfläche legen konnte. Es knisterte elektrostatisch unter meinen Fingerspitzen, und ich musste blinzeln.
Für einen Moment fragte ich mich, ob ich halluzinierte und mein Krankenzimmer womöglich nie verlassen hatte, doch genau dieser Gedanke war es, der mich wissen ließ, dass ich mich nicht in einer Scheinwelt befand.
Irre reflektieren nicht über ihren Zustand.
Ich beugte mich nach vorne und versuchte, die Schatten im Fernseher zu deuten. Es dauerte eine Weile, bis ich die unterschiedlichen Grau- und Schwarzabstufungen zu einem Bett zusammengesetzt hatte.
Welcher Spinner filmt ein Zimmer?,
fragte mein Gehirn, dem es momentan offenbar gefiel, in Reimen zu denken.
Der Raum auf dem Bildschirm wirkte leer, ich konnte niemanden darin erkennen, sosehr ich mich auch anstrengte. Trotzdem konnte ich meinen Blick nicht von dem Fernseher abwenden. Ich glotzte wie jemand, der in das endlose Nichts des Universums starrt und auf eine Sternschnuppe wartet, ohne zu wissen, welchen Punkt seine Augen eigentlich fixieren sollen, damit ihnen nichts entgeht. Ereignislose Sekunden flossen vorüber, in denen mein Geist für einen kurzen Moment wieder abzudriften drohte, als plötzlich der Blitz einschlug.
Der Bildschirm flammte auf, als wäre in dem Zimmer eine Napalmbombe explodiert, und ich riss instinktiv meine Ellbogen vor die Augen. Gleichzeitig bettelte ein waidwundes Tier hinter der Wand kreischend um Erlösung von seinen Qualen.
Nur eine halbe Sekunde, länger hatte es nicht gedauert, bis es wieder dunkel wurde und der Schrei abriss, doch diese kurze Ewigkeit hatte ausgereicht, um mich völlig zu verstören. Ich begann vor Schreck zu lachen und wollte gleichzeitig meine Blase entleeren. Nicht nur meine Gedanken, auch meine Körperreaktionen ergaben keinen Sinn mehr. Aber wie sollte ich das Bild der Frau auch verkraften, das sich plötzlich und ohne Vorwarnung in diesem grellen Licht direkt auf dem Bildschirm materialisiert hatte, um sich für immer in meine Netzhaut einzubrennen? Das Bild der Frau mit den weit aufgerissenen, blutenden Augen unter einer eng anliegenden Taucherbrille, die wie irre lachend die Zähne bleckte?
Das ist kein Traum,
dachte ich.
Das ist die schreckliche Wirklichkeit, und sie brüllt dich an. Sie schreit dir ins Gesicht und zeigt dir den Ursprung aller Schmerzen.
Fast gleichzeitig gab mir Scholles Stimme in meinem Rücken zu denken, der mich lächelnd fragte, ob ich Tamara Schlier noch einmal sehen wolle.
26. Kapitel
E inen Tag nach ihrer Geburt hatten sich die Eltern von Tamara Schlier gesorgt, ob ihre bildhübsche Tochter wohl jemals die Augen öffnen würde. Ob sie schlief, schrie oder ihre ersten Saugversuche an der Brust ihrer Mutter unternahm – Tamara hielt die Lider bis auf wenige Ausnahmen fest zusammengepresst. Es schien, als wollte das Baby die kalte Welt, in die es so unsanft gepresst worden war (unter dem Einsatz einer Hebamme und einer Kinderärztin, die sich während der letzten Wehen unterstützend auf den Bauch der Mutter geworfen hatte), nicht mit eigenen Augen sehen. Natürlich war diese Sorge, wie so viele Befürchtungen junger Eltern, lächerlich unbegründet, denn schon wenige Stunden später hatte sie unter heftigem Wutgezeter beim Wickeln endlich die Augen aufgerissen und ihren Eltern einen vorwurfsvollen Blick geschenkt, der diese zu Freudentränen rührte.
Damals vor zweiunddreißig Jahren hatte niemand ahnen können, dass tatsächlich einmal der Tag kommen würde, an dem Tamara sich wünschte, nie das Licht der Welt erblickt zu haben; und zwar im Wortsinn, weil ihre Qualen jegliches Maß des
Weitere Kostenlose Bücher