Der Augenjäger / Psychothriller
nicht …
»Zwanzig Sekunden.«
Am Ende waren es die schlichten Zeitangaben Franks, die meine Gedanken auf eine andere Flugbahn setzten und damit die Wendung herbeiführten.
Ich habe noch zwanzig Sekunden, um die Kombination zu erfragen.
In spätestens dreißig Sekunden kriegt TomTom keine Luft mehr.
Aber wie, so fragte ich mich, wollte Frank das kontrollieren?
»Oder du siehst TomTom beim Sterben zu«,
hörte ich ihn in meiner Erinnerung kichern. Nur, woher wusste er, wie lange ich dazu noch warten musste? Es gab nur eine einzige Erklärung:
Er kann nicht weit sein.
Vermutlich ist er noch ganz in der Nähe.
Die Vorstellung ließ mich schwindeln. Ich hatte das Gefühl, als drehe sich auf einmal das gesamte Zimmer um mich herum und ich sei der einzige Fixpunkt im Raum.
»Zehn Sekunden, Zorbach.«
Ich sah nach oben zu der weiß gestrichenen Zimmerdecke, und als ich dort nichts Verdächtiges erkennen konnte, humpelte ich zu der einzig sinnvollen Stelle im Bad, die noch blieb. An der es Strom und einen Verschlag gab, um die Installation zu verstecken.
Ich öffnete die linke, bereits etwas angelehnte Tür des Spiegelschranks über dem Waschbecken und starrte in die Linse einer rot blinkenden Miniaturkamera.
Im gleichen Moment wurde über mir auf dem Dachboden eine Schusswaffe abgefeuert.
39. Kapitel
W enn man in unserem Haus auf den Dachboden wollte, benötigte man zunächst einen Holzstock mit einem Haken am Ende. Mit ihm ließ sich eine Falltreppe herunterziehen, die sich hinter einer quadratischen Klappe in der Decke befand, etwa in der Mitte des Flurs. Auf meinem Hinweg war die Klappe fest verschlossen gewesen. Jetzt, als ich nach dem Schuss rückwärts aus dem Badezimmer taumelte, stand sie offen. Die Falltreppe hing halb ausgefahren nach unten, wie eine Zunge aus dem Mund eines Riesen, dem ein fahles, kaltes Licht aus dem Rachen strahlte. Was immer dort oben geschah, es geschah bei voller Beleuchtung.
Ich sah zurück zur Wanne, in der TomToms Schnauze gerade vollständig untertauchte. Dann hörte ich die Kampfgeräusche über meinem Kopf und erkannte, dass Frank soeben den Spieleinsatz verändert hatte.
Es ging nicht länger um TomTom oder Scholle. Jetzt ging es nur noch um Frank oder mich.
Ich hörte jemanden meinen Namen brüllen, so schmerzerfüllt und verzweifelt, dass ich die Stimme des Polizisten kaum wiedererkennen konnte. Als Scholle mich laut um Hilfe anflehte, war ich bereits in Griffweite der Treppe. Von Adrenalin und Rachegedanken getrieben, bewegte ich mich mit einer unvermuteten Selbstverständlichkeit durchs Haus, als wäre meine Motorik nie durch die Schusswunde beeinträchtigt gewesen.
Ich packte die unterste Stufe und wollte die Treppe nach unten ziehen, als es über meinem Kopf dunkel wurde. Dann spürte ich etwas Warmes im Gesicht.
»Hiiiiiilffeeee!« Ich hoffte, dass es Speichel war, den Scholle mir ins Gesicht schrie, rechnete wegen des metallischen Geruchs aber mit dem Schlimmsten.
Scholles massiger Körper passte kaum durch die Luke. Panisch versuchte er, die halb ausgefahrene Treppe mit dem Kopf voran nach unten zu krabbeln, wobei es schien, als strampelte er auf der Stelle. Entweder, weil er seine Fluchtbewegungen nicht mehr sinnvoll koordinieren konnte.
Oder weil Frank ihn dort oben an den Beinen zurückhält.
Der Flur wurde weiterhin nur von dem Licht aus Julians Zimmer gespeist, weswegen Scholles Körper in einem diffusen Halbdunkel vor mir in der Luft baumelte. Das Blut schoss ihm ins Gesicht.
»Nein«,
korrigierte ich mich. Es schoss ihm
aus dem
Gesicht.
Sein einst weißes Hemd war blutgetränkt. Dicke, dunkle Tropfen perlten ihm von dem faltigen Hals, dem Doppelkinn und der Hand, die er hilfesuchend nach mir ausstreckte.
Ich packte sie und rutschte ab, weil sie so glitschig war. Erst als ich mit beiden Händen zugriff und mich mit meinem gesamten Gewicht nach hinten lehnte, gelang es mir, Scholle nach unten zu ziehen. Es knackte laut, als wäre eine Stufe unter seiner Last gebrochen …
oder eine verkeilte Schulter …,
dann gehorchte sein massiger Körper wieder den Gesetzen der Schwerkraft. Scholle schrie gequält auf und rutschte wie in Zeitlupe auf mich zu. Stufe für Stufe schob er sich nach unten, langsam wie dickflüssiger Honig von einem Teelöffel. Ich hätte alle Zeit der Welt gehabt, zur Seite zu treten. Stattdessen bewegte ich mich keinen Millimeter und dachte aus unerfindlichen Gründen an den Karikaturenzeichner, der auf dem Breitscheidplatz
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