Der Augenjäger / Psychothriller
Zerplatzen brachte.
Der Lärm hatte die Nachbarn geweckt. Als ich im Fenster stand, sah ich die Lichter in den Schlafzimmern der angrenzenden Häuser angehen. Die alte, alleinstehende Dame neben mir hatte ihre Terrassenbeleuchtung eingeschaltet, um nach vermeintlichen Einbrechern Ausschau zu halten. Zudem hatten die Bewegungsmelder einige Gartenlampen aktiviert, weshalb es mir überhaupt erst möglich war zu sehen, wie Frank in der Dunkelheit des Waldes hinter dem Zaun verschwand.
Ich legte trotzdem an, feuerte in die Richtung, in der ich ihn vermutete. Einmal. Zweimal.
Dann setzte ich einen Fuß auf die Brüstung, um aus dem Fenster zu springen. Die Beete unter mir waren aufgrund des Dauerfrosts hart wie Beton, doch das war mir gleich. Vor meinen Augen war gerade der Mörder meiner Familie verschwunden, und selbst ein gebrochener Fuß hätte mich nicht von der Verfolgung abgehalten.
In einiger Entfernung hörte ich mehrere sich überlagernde Polizeisirenen. Einer der Nachbarn hatte die Kavallerie gerufen, aber die kam für mich in jeder Hinsicht zu spät.
Ich brauche eure Hilfe nicht,
dachte ich noch.
Das hier geht euch nichts an. Das ist privat.
Dann aber, als ich springen wollte, geschah etwas, womit ich am wenigsten gerechnet hatte und was meinen Verstand komplett überforderte: Frank kam zurück.
40. Kapitel
E
r kann nicht aufhören zu spielen,
dachte ich.
Selbst auf der Flucht fordert er mich heraus.
Frank ging langsam – wie ein Mensch, der sich auf jeden seiner Schritte konzentrieren muss – den schneebedeckten Weg zurück, der von der hinteren Gartenpforte zu unserem Wintergarten führte.
Nach wenigen Metern blieb er stehen, etwa auf halber Strecke zwischen dem Haus und der Grundstücksgrenze. Nah genug, dass ich die Konturen seines so unpassend jungenhaften Gesichtes sehen konnte.
Seine Haare wirkten länger, der helle Jogginganzug war dreckig und zerschlissen, soweit ich das von hier oben beurteilen konnte. Der Kampf mit Scholle hatte seine Spuren hinterlassen. Er hielt die Arme dicht an sich gepresst wie ein Junge, der mit den Füßen voran das erste Mal vom Zehnmeterbrett springen will, nur dass er in der rechten Hand eine Pistole hielt.
Sein Atem ging schwer, er keuchte dicke Schwaden in die kalte Winterluft.
Auf einmal begann der Himmel über mir zu flackern. Blaue Lichtblitze zuckten vor meinen Augen, und ich befürchtete schon, meine Halluzinationen hätten sich den ungünstigsten Moment ausgesucht, um zurückzukehren. Dann hörte ich die dazu passenden Sirenen. Mehrere Einsatzfahrzeuge bogen in unsere Straße.
Frank ließ sich von den nahenden Polizisten ebenso wenig beirren wie ich.
Er stand seelenruhig in meinem Garten, machte keine Anstalten zu fliehen. Die einzige Veränderung seiner Körperhaltung bestand darin, dass er den unbewaffneten Arm hob und mir zuwinkte, als wollte er mir höhnisch zurufen: »Schieß doch, alter Mann. Aber dann wirst du nie erfahren, was ich mit deinem Sohn gemacht habe.«
Im Nachhinein betrachtet wäre es sicher vernünftiger gewesen, auf die Beamten zu warten, die jeden Augenblick das Treppenhaus stürmen mussten, aber es gibt nichts Persönlicheres als Rache.
Das kann dir niemand abnehmen,
dachte ich und hob meine Waffe, um sie auf den Augensammler auszurichten.
Frank schüttelte den Kopf. »Das schaffst du nie, alter Mann«, sprach aus seiner Körperhaltung.
Es war nicht das erste Mal, dass er sich irrte.
Mit dem ersten Schuss traf ich ihn in der Schulter. Die Wucht des Einschlags war so groß, dass es ihn umriss. Ich wollte ihn nicht töten. Nicht jetzt. Nicht bevor er mir gesagt hatte, was mit meinem Sohn passiert war. Der zweite Schuss sollte ihn in den Oberschenkel treffen, ins Knie oder an irgendeiner anderen Stelle, die ihn bewegungsunfähig machte. Stattdessen traf sie ihn gar nicht. Ich schoss. Und schoss. Und schoss … und kein einziges Projektil traf sein Ziel. Denn ich hatte keine Patronen mehr. Alle verbraucht.
Für das Fenster. Für die Nacht. Für die Schulter.
Für den Hund, der hinter mir in der Wanne jaulte.
Verdammt.
Ich hatte sie alle vergeudet, und so blieb mir nichts anderes übrig, als Frank dabei zuzusehen, wie er vor meinen Augen wieder aufstand und zum zweiten Mal durch die Gartenpforte in den Wald hineinrannte. Diesmal ohne zurückzukehren und ohne dass ich ihm folgen konnte, denn gerade, als ich ansetzte, aus dem Fenster zu springen, wurde ich von mehreren Händen zurückgerissen.
Die Polizei, mein Freund
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