Der Augenjäger / Psychothriller
mich zu dir zu drehen.«
Die letzten Worte kamen wieder wütend und trotzig aus dem Mund der Sechzehnjährigen, die sich erstaunlich gut artikulierte, für jemanden, der seit Monaten keinen Kontakt mehr mit der Außenwelt hatte.
»Gibt es sonst irgendetwas Auffälliges hier?«
»Was meinst du? Diese fette Zahnarztlampe über uns? Der Reißverschluss in der Plane da vorne. Sieht aus, als ob man damit eine Tür im Zelt öffnen kann.«
Die Schleuse,
dachte Alina.
Durch sie wird Suker seinen Operationssaal betreten.
»Was ist mit dieser Tür? Wie weit ist sie entfernt?«
»Zwei, drei Meter vor uns. Was weiß ich.« Sie hustete wieder.
»Gibt es nur innen einen Reißverschluss oder auch außen?«
»Kacke, wie soll ich das denn erkennen?«
»Nicola, bitte. Reiß dich zusammen. Willst du hier raus?«
»Ja. Scheiße, ja. Aber das geht nicht. Wir werden hier verrecken.« Sie schluchzte auf, als habe ihr jemand in den Magen geschlagen. Nicht mehr lange, ahnte Alina, und das Mädchen würde hysterisch werden.
»Hey, hey. Hör auf damit. Hör mir zu, Nicola!«
»Was?«, rief sie weinend.
»Selbstmitleid bringt uns nicht weiter.«
»Blöde Sprüche auch nicht, du Mistkuh. Glaubst du nicht, ich hab alles versucht, um hier rauszukommen? Das klappt aber nicht, denn wir sind die ganze Zeit gefesselt. Beim Schlafen, beim Essen, wenn wir uns mit diesem Pisseimer waschen müssen und auch beim Kacken, verstehst du?«
»Ja, das verstehe ich. Aber unser Kopf ist frei. Den hat er nicht in Ketten gelegt.«
Zumindest noch nicht.
Das würde erst mit der Anästhesie geschehen. »Also nutze die einzige Waffe, die dir noch geblieben ist, deinen Verstand …«
Gott, jetzt höre ich mich schon wie ein Freiheitskämpfer an.
»… und nenn mir jedes Detail, jede Kleinigkeit. Ganz gleich, ob du glaubst, dass es wichtig ist oder nicht.«
Nicola stöhnte auf. »Ich sag doch, hier ist nichts. Wir liegen auf verdammten Edelstahltischen mit einer dünnen Auflage. Die Tische sehen aus wie das Ding, auf dem mein Tierarzt Freddy eingeschläfert hat.«
»Sind da Rollen dran?«
»Weiß nicht.« Alina hörte wieder das Rasseln von Nicolas Fesseln. »Ja, glaub schon. Und da gibt es einen Hebel. Glaub, unsere Tische sind höhenverstellbar.«
»Okay, wie weit liegen wir beide entfernt?«
»Bin ich ein Landvermesser? Zwanzig, dreißig, vierzig Zentimeter. Wozu ist das wichtig? Zwischen uns steht so ein Rolltisch mit mehreren Schubladen, wie im Krankenhaus, wenn dir das weiterhilft. Ist aber nichts drauf.«
Noch nicht.
Bald würde Suker dort seine Instrumente plazieren. Allen voran das Skalpell, das nach ihm benannt war.
»Moment mal«, hörte sie Nicola plötzlich sagen.
»Was?«
»Ich glaub, da ist doch was. Ich bin mir nicht sicher.«
»Was? Was siehst du?«
»Ich glaube, da drüben hängt ein Waschbecken.«
Wo er seine Hände vor dem Eingriff säubern wird.
»Nicola, ich kann mit ›da drüben‹ herzlich wenig anfangen. Zur Erinnerung, ich bin blind.«
»Ach so, ja. Sorry. Ich meine, hinter der Plane.«
»Dahinter?«
»Ja, sagte ich doch. Die Dinger sind halb durchsichtig, soweit ich das im Halbdunkel hier sehen kann. Aber ich bin mir fast sicher. Da draußen hängt ein Waschbecken. Und daneben ist ein Knopf an der Wand.«
»Was für ein Knopf?«
»Keine Ahnung, vielleicht täusche ich mich auch. Das Ding sieht aus wie ein Feuerknopf.«
Ein Knopf für Feuer?
»Was zum Teufel soll das sein?«
»Mann, so ein rotes Teil hinter Glas, wie bei uns in der Schule. Du weißt doch, was ich meine.«
»Feueralarm?«
»Richtig.«
Alina war wie elektrisiert.
Konnte es möglich sein? Hatte Suker bei der Ausgestaltung seines Operationssaals einen Fehler gemacht? Oder ging er ohnehin davon aus, dass es den Frauen niemals gelingen würde, auch nur in die Nähe des Alarmknopfes zu kommen, sollte er überhaupt funktionieren.
»Was kannst du noch alles hinter der Plane erkennen?«,
wollte Alina wissen, doch in diesem Moment fiel ihr eine viel dringlichere Frage ein, die sie schon längst hätte stellen müssen und von deren Beantwortung ihre Chancen, diesen Ort lebend zu verlassen, entscheidend abhingen.
»Du hast eben von den Käfigen gesprochen, in denen
sie
euch hielten, bevor du verlegt wurdest.«
»Ja?«
»Was hast du damit gemeint? Arbeitet Suker etwa nicht allein?«, fragte Alina in Nicolas Richtung, aber da war es schon zu spät.
Sie hörte, wie ein Reißverschluss nach oben gezogen wurde. Der Augenarzt kam zurück.
38.
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