Der Augenjäger / Psychothriller
Kapitel
Alexander Zorbach
I ch hatte meinen toten Punkt überschritten. Nicht in Bezug auf die Müdigkeit, die mich, seit ich aus der Bewusstlosigkeit erwacht war, wie ein schwerer Kokon einhüllte. Es war der tote Punkt meines Schmerzbewusstseins, den ich hinter mir gelassen hatte. Während ich mich durch den Flur schleppte, war mein Geist von einer längst vergessen geglaubten Klarheit erfüllt, als hätte das Grauen, durch das ich wanderte, eine klärende Funktion; ein Anästhetikum, dessen Wirkungsweise darin bestand, meine Qualen durch gezielt gesetzte Schockmomente zu vertreiben. Meine Kopfschmerzen waren verschwunden, und selbst die rechte Körperhälfte wollte mir wieder besser gehorchen, auch wenn ich auf meinem Weg dem rauschenden Wasser entgegen hin und wieder einknickte. Leider dämpfte der Schrecken, dem ich mich ausgesetzt sah, nur meine körperlichen Leiden und ließ die seelischen Wunden unberührt. So kam es, dass ich einerseits klar denkend, andererseits von einer tiefen, mit Angst vermischten Wut erfüllt, die Tür zum Badezimmer aufstieß, in das Frank mich befehligt hatte.
Als ich eintrat, konnte ich nichts sehen. Heißer Wasserdampf hatte das Badezimmer in eine dichte Nebellandschaft verwandelt, in der es mir schwerfiel zu atmen. Ich wedelte mit den Armen, als wollte ich ein lästiges Insekt vertreiben, und nach und nach lichtete sich der Vorhang vor meinen Augen. Was ich bedauerte, als ich die Badewanne sah.
Bitte, lieber Gott, mach, dass ich mich irre …
Ich fühlte mich wie eine Comicfigur, die einen Schritt über den Abgrund getreten ist und nun in der Luft schwebend darüber nachdenkt, welchen Fehler sie wohl begangen hat, bevor es sie in den Abgrund reißt. Nur dass sich vor mir leider kein Krater auftat, in den ich hätte versinken können.
Lass mich einer optischen Täuschung erliegen. Lieber Gott, mach, dass mein durchlöchertes Gehirn mir einen Streich spielt …
Unsere Badewanne war ein auf antik getrimmtes Monstrum, das auf Messingfüßen thronend in der Mitte des Raumes stand. Groß genug, um zwei Menschen aufzunehmen, die sich beim Baden nur dann berühren mussten, wenn sie es auch wollten. Weil Nicci auf einen wassersparenden Zulauf bestanden hatte, dauerte es mindestens eine halbe Stunde, bis der »Swimmingpool vollgetankt« war, wie Julian es scherzhaft ausgedrückt hatte. Aktuell fehlten noch etwa zwei Zentimeter, bis die Wanne überlief. Zwei Zentimeter, die im Augenblick über Leben und Tod entschieden.
Ich stürzte zum Wannenrand und rüttelte an den Ketten, mit denen die geschundene Kreatur darin gefesselt war. Frank hatte ganze Arbeit geleistet. TomTom hatte weder die Chance, aus der Wanne zu springen, noch seine Schnauze über den Rand zu halten. Er wirkte wie weggetreten, war vermutlich sediert, was erklärte, warum er nicht winselte oder gar bellte.
Das Geschirr, in dem der Blindenhund steckte, damit Alina ihn mit einem starren Haltegriff führen konnte, war dem armen Tier nun zum Verhängnis geworden. Es bot genug Ösen und Schlaufen, durch die der Augensammler mehrere dünne Ketten hatte ziehen können, um TomTom komplett bewegungsunfähig zu machen. Der Hund war an Hals, Torso und Hüfte an die Armaturen der Badewanne gekettet worden. Die Schnauze des Golden Retrievers hing bereits mit der Unterkante im Wasser. Nach oben hin war kaum noch Spielraum. Die Wanne, ein amerikanisches Modell ohne Überlauf, füllte sich langsam, aber stetig. Ein, vielleicht zwei Minuten noch, und TomTom würde untertauchen, und ich konnte nichts dagegen tun, denn die Drehventile des Zulaufs waren ebenso abgeschraubt wie der Hebel, um den Abfluss zu öffnen.
»Siehst du, unser Spiel geht weiter«, hörte ich Frank über das Telefon frohlocken, das ich mir zwischen Ohr und Schulter geklemmt hatte, um mit den Händen TomToms Kopf über Wasser zu halten. Der Hund zitterte am ganzen Körper, wirkte ansonsten aber völlig apathisch.
»Was willst du von mir?«
»Eine Entscheidung. Hast du das nicht kapiert? Bei allem hier geht es um Entscheidungen.«
»Wieso ich?«,
wollte ich brüllen.
»Weshalb hast du ausgerechnet mich für deine Folter ausgesucht?«
Der Augensammler hatte mich in dunkle Keller geführt und mich vor die Wahl gestellt, eine kranke Frau zu töten oder selbst zu sterben. Er hatte meinen Tod für das Leben Julians gefordert. Und nun stand ich wohl wieder unter dem Zwang, mich zwischen Leben und Tod entscheiden zu müssen.
TomTom, der bislang die Augen geschlossen
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