Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Augenjäger / Psychothriller

Der Augenjäger / Psychothriller

Titel: Der Augenjäger / Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
Vom Netzwerk:
vor der Gedächtniskirche die Gesichter zahlender Touristen malt, indem er ihre prägenden Gesichtszüge übertrieben hervorhebt.
    Auch Scholles Anblick wirkte auf unheimliche Art vertraut und gleichzeitig entstellt. Die Wangen waren noch aufgedunsener, die Lippen schmaler, die ohnehin schon kleinen Augen wirkten jetzt winzig, da der Stirnwulst, unter dem sie lagen, viel stärker als sonst hervortrat.
    Ich begriff selbst nicht, weshalb ich die Zeit ungenutzt verstreichen ließ. Erst später wurde mir klar, dass alle Ereignisse – von dem Moment an, als ich den Schuss gehört hatte, bis zu der Sekunde, in der ich an Scholles Arm zog – in Sekundenbruchteilen geschehen waren. Wie oft in Momenten drohender Todesgefahr schien die Zeit wie eingefroren. Die Welt, in der ich mich befand, glich einem Videofilm, bei dem mein Gehirn auf Standbild geschaltet hatte, kurz bevor in der nächsten Sequenz die Katastrophe passierte. Ich konnte das drohende Unglück endlos lange betrachten, den Lauf der Dinge aber nicht beeinflussen. Und daher wurde ich von Scholles Körper im wahrsten Sinne des Wortes begraben, als mein Gehirn wieder auf Play drückte.
    Ich schlug mit dem Hinterkopf auf den Teppich und spürte, wie die Luft unter der Last aus meinem Körper gedrückt wurde. Scholle schrie, als würde ihm jemand ein Messer in den Magen rammen. Ich schaffte es, mich unter ihm hervorzurappeln, drehte ihn mit einiger Anstrengung auf den Rücken und sah die Eintrittswunde. Ein glatter Bauchschuss.
    Eine der schmerzhaftesten Verletzungen, die man sich vorstellen kann. Und eine der tödlichsten, wenn – was sehr wahrscheinlich war – innere Organe zerstört waren. Immerhin schien die Wirbelsäule nicht zerschmettert, denn Scholle konnte die Beine bewegen und atmen. Aber der Blutverlust war heftig, zudem wirkte das Blut unglaublich dickflüssig und dunkel. Mir war klar, dass Scholle ohne medizinische Hilfe in den nächsten Minuten unter Höllenqualen entweder verbluten oder an Blutvergiftung sterben würde.
    Wahrscheinlich beides.
    Ich riss mir meinen Druckverband vom Kopf und presste ihn mit beiden Händen auf die Schusswunde. Scholle schrie auf, wollte meine Hände wegreißen, doch ich drückte dagegen, auch wenn ich wusste, dass meine Bemühungen die Situation womöglich sogar verschlimmern würden.
    »Nicht, du musst Frank …« Scholle krümmte sich schreiend zusammen, zog die Beine an. Dann keuchte er etwas, was ich zuerst missverstand.
    »Nimm ihn, bitte …«
    Ich sah ihn nach dem Gurt unter seinem nach oben gerutschten Hosenbein tasten, in dem ein kleiner Revolver steckte. Eine Waffe, die Frank entgangen sein musste.
    »Er. Haut. Ab.« Scholle presste die Worte einzeln hervor, jeweils von Schreien unterbrochen.
    Ich nickte, stand auf und riss mit einem Ruck die Leiter herunter. Als ich mit dem Fuß auf der ersten Stufe stand, hielt Scholle mich mit letzter Kraft zurück, indem er meinen Knöchel umklammerte.
    »Nicht oben!«, stöhnte er. »Durchs Fenster.«
    Ich nickte. Frank war sicher schon längst nicht mehr auf dem Dachboden. Nach dem Schuss war er durch die Dachluke geklettert und hangelte sich aller Wahrscheinlichkeit nach an der Hinterfront des Hauses hinunter, um dann über einen angrenzenden Wirtschaftsweg im Wald zu verschwinden.
    Das ist der einzig logische Fluchtweg. So würde ich es machen.
    Ohne eine weitere Sekunde zu verlieren, stolperte ich ins Bad, dessen Fenster ebenfalls zum Hintergarten hinausging. Das Wasser bedeckte jetzt den gesamten Fußboden, und ich musste abbremsen, um nicht der Länge nach hinzuschlagen.
    Ich richtete die Waffe nach vorne, um das Milchglasfenster in der Wand zu zerschießen, doch dann tat ich etwas, von dem ich mir bis heute nicht sicher bin, ob es der alles entscheidende Fehler gewesen war: Ich warf einen Blick in die Badewanne.
    TomTom zuckte im Todeskampf unter Wasser.
    Vermutlich vergeudete ich wichtige Sekunden und Munition, indem ich die Pistole direkt auf die Kette ansetzte und mit einem gezielten Schuss sowohl TomToms Fesseln als auch die Mischbatterie zerstörte, an die er gefesselt war. Aber ich konnte nicht anders. Ich handelte instinktiv und riss ihn an der Kette nach oben aus der Wanne, was mir nicht vollständig gelang, da seine Hüfte immer noch fixiert war. Aber wenigstens hatte ich ihn mit der Schnauze über den Wannenrand gezerrt.
    Das alles geschah quasi im Vorübergehen, während ich zum Fenster spurtete, dessen Scheibe ich nun mit meinem zweiten Schuss zum

Weitere Kostenlose Bücher