Der Augenjäger / Psychothriller
Auge grub. Aber niemand war gekommen, um den Augenarzt von seinem Teufelswerk abzuhalten. Der Einzige, der letztlich ausgeschaltet und zum Schweigen gebracht worden war, war sie selbst; und zwar mit einem stark dosierten Narkotikum, das noch lange nach dem Aufwachen ihre Gedanken ausbremste. Erst als ihr übel wurde und sie sich zur Seite drehte, um neben den Operationstisch zu erbrechen, merkte Alina, dass sie nur noch an einer Hand gefesselt war. Die Linke war wieder frei.
Er will nicht, dass ich sterbe,
dachte sie und wusste nicht, ob der Gedanke ihr Trost spenden oder ihre Verzweiflung steigern sollte. Nachdem sie nun schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit narkotisiert worden war, hatte Suker offenbar Vorsichtsmaßnahmen getroffen und ihr genügend Bewegungsspielraum eingeräumt, damit sie nicht an ihrem Erbrochenen erstickte, bevor er mit ihr fertig war.
Sie ballte die Hand zur Faust und musste an einen Bericht über einen Kriegsgefangenen denken, dessen Körper sich während der Schmerzen, die er zu erdulden hatte, von seinem Geist abgespalten hatte. Nur so war es dem Mann möglich gewesen, die Qualen zu ertragen. Dadurch waren es nicht länger
seine
Finger, denen man die Nägel herausdrehte; nicht
seine
Zähne, die man bis zum Kieferknochen aufbohrte, sondern die eines seelenlosen Fremden.
Damals hatte sich Alina eine solche Ausnahmesituation nicht vorstellen können. Jetzt bekam sie eine erste Vorahnung, als sie die Hand über ihren nackten Körper gleiten ließ. Ihre Finger, mit denen sie sich berührte, fühlten sich an wie die einer Fremden. Alina tastete nach ihrem Oberschenkel, zeichnete mit den Fingern ihren Hüftknochen nach, presste die flache Hand auf den Bauch, wanderte über die Brüste nach oben, verharrte kurz am Kinn, bis sie zaghaft und ängstlich die geschlossenen Augen berührte. Hier angekommen, konnte sie den Weg, den sie zurückgelegt hatte, immer noch spüren, so als hätte sie sich mit den Fingern eine glühende Furche in die Haut gezogen. Es erinnerte sie an einen schlimmen Sonnenbrand, den sie als kleines Mädchen nach einem langen Tag am Strand von Santa Barbara einmal gehabt hatte. Sie war mit Freunden unterwegs gewesen und hatte die Ermahnungen ihrer Mutter in den Wind geschlagen, sie müsse sich auch bei dichter Bewölkung eincremen. Nach jenem Nachmittag hatte es drei Tage gedauert, bis sie nicht mehr weinen musste, wenn sie ein T-Shirt überstreifte.
Und wie lange wird es diesmal dauern?,
fragte sie sich, während sie die Augen öffnete.
Drei Wochen? Drei Monate? Wann wird es diesmal nicht mehr weh tun?
Tief in ihrem Innersten fühlte sie die Antwort:
Niemals. Es wird niemals wieder gut werden.
Doch sie durfte diesen Gedanken nicht zur Überzeugung werden lassen. Sie musste ihn in einem hinteren Winkel ihres Bewusstseins vergraben, bevor er jede Hoffnung in ihr vergiftete.
»Negative Gedanken sind wie Bakterien«, hatte John ihr einmal erklärt. »Haben sie sich einmal in dir festgesetzt, vermehren sie sich und töten jeden Lebensmut in dir.«
»Und welches Antibiotikum empfiehlst du dagegen?«, hatte sie ihn scherzhaft gefragt, und er hatte, ohne zu zögern, eine ernsthafte Antwort darauf gegeben: »Da gibt es nur ein Gegenmittel: Freundschaft.«
Freundschaft,
erinnerte sich Alina bei ihrem toten Blick in die Dunkelheit. John hatte nicht
Liebe
gesagt, denn
Liebe
war seiner Meinung nach, wie jedes euphorische Gefühl, vergänglich, nur Freundschaft war etwas Dauerhaftes.
Ach John, wo sind jetzt die Freunde, wenn man sie braucht?
Alina tastete nach der Metallfessel, in der ihre rechte Hand steckte, und riss an der Kette, mit dem einzigen Erfolg, dass sie sich die Handgelenke wundscheuerte.
Scheiße, John, du bist nicht da. Und Zorbach auch nicht. Niemand ist hier, um mich zu retten.
Sie schrie verzweifelt auf, strampelte mit den Beinen, trat mit den Füßen nach unten und wurde ob der Sinnlosigkeit ihrer Übersprunghandlungen noch wütender.
Sie brüllte, als läge sie in Wehen, mit denen sie die Angst und Verzweiflung aus ihrem Körper pressen könnte.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich so sehr verausgabt hatte, dass ihr die Luft zum Schreien fehlte. Mehrere Minuten vergingen, bis ihr Verstand wieder die Kontrolle übernahm und sie sich fragte, ob Suker ihren Nervenzusammenbruch gehört hatte.
Oder ein Nachbar?,
dachte sie und musste wieder an John denken, der ihr sicher freundschaftlich zugenickt hätte, weil sie jetzt wieder auf dem Pfad der positiven
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