Der Augenjäger / Psychothriller
Schwanenwerder war kein Krankenhaus, sondern eine Auffangstation. Ein sicheres Haus für den Zeugen- und Opferschutz. Kein Ort, an dem man sich auf Dauer einrichten wollte, weder als Personal noch als Gast.
»Mit so einer kritischen Verletzung spaziert man doch nicht in der Weltgeschichte umher.«
Es war das erste Mal, dass ich mich in Dr. Roths Sprechzimmer befand. Bislang hatte der Psychiater mich immer an meinem Krankenbett besucht.
»Sie irren sich«, sagte ich. Es war auch das erste Mal seit Wochen, dass ich eine Unterhaltung mit ihm führte oder zumindest den Versuch dazu unternahm.
»Bitte?«
Ich hob die Hand und zeigte ihm die Patrone, die er mir gegeben hatte. »So etwas hab ich mir nicht durchs Hirn gejagt.«
»Sondern?«
»Nur die Kugel, die da drinnen steckt. Gängiger Anfängerfehler. Hab früher auch immer Projektil mit Patrone verwechselt.«
»Klugscheißer«, sagte Roth, musste aber grinsen. Er schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Hüfte. »Na, immerhin haben Sie Ihre Sprache wiedergefunden.«
Er kniete sich zu mir herunter und zog eine Kugelschreibertaschenlampe aus seinem Kittel. Ich wehrte ab, als er mir damit in die Augen leuchten wollte. Es war jetzt sieben Uhr früh, ich war bereits mehrfach untersucht worden und hatte alle Reflextests bestanden. Abgesehen von meiner Müdigkeit fühlte ich mich körperlich so gut wie lange nicht mehr.
»Was ist mit Frank?«, wollte ich wissen.
Roth hob die Augenbrauen, ohne dabei die Stirn krauszuziehen. Nicht zum ersten Mal fielen mir seine jugendlichen, fast jungenhaften Gesichtszüge auf; ein Mann, dem man seine Erfahrung nicht ansah. In Turnschuhen und Jogginghose hätte es ihm passieren können, dass er in einer Kneipe nach seinem Ausweis gefragt wurde.
»Sie meinen den Kerl, auf den Sie geschossen haben?«, fragte er und richtete sich wieder auf.
Ich nickte.
»Ich habe eben mit Kommissar Stoya telefoniert, und er ist sich sicher, dass sie ihn bald fassen werden. Immerhin haben Sie ihm eine schwere Verletzung beigebracht. Er muss sich im Wald versteckt haben. Weit kann er nicht gekommen sein, und sie suchen mit Hunden.«
»Na klar.« Ich zog verächtlich die Mundwinkel herab.
Sie werden ihn bald haben. Das sagen sie jedes Mal und jagen ihm nun schon seit Monaten hinterher.
»Und wie geht es Scholle?«
»Dem Polizisten, der gegen etwa einhundert Dienstvorschriften verstieß, als er Sie von hier wegbrachte?«
Er sah mich traurig an, als bedauerte er seine Worte bereits. Ganz gleich, wie aufgebracht Roth über das eigenwillige Verhalten des Polizisten war, so eine Bestrafung hatte der Mann nicht verdient.
»Das kann man noch nicht sagen. Er wird gerade notoperiert.«
»Hier?« Wir waren in zwei verschiedenen Krankenwagen abtransportiert worden.
»Nein. Für so etwas sind wir auf Schwanenwerder nicht eingerichtet. Das hier ist mehr eine Reha-Station, von einem voll funktionsfähigen Krankenhaus weit entfernt. Die Behandlung lebensgefährlicher, vielleicht auch tödlicher Schusswunden können wir schon gar nicht leisten.«
Tödlich …
Ich musste an Julian denken, an Nicci und an Alina, und ich fragte mich, ob es ein Naturgesetz war, dass all die Menschen, die ich liebte, früher oder später das gleiche Schicksal teilen mussten. Als wäre der gewaltsame Tod ein Virus und ich sein infektiöser Träger, bereit, ihn an jeden weiterzugeben, der mir nahestand.
Ich merkte, wie ich in Gedanken wegdriftete, ähnlich wie ein Autofahrer in den Sekundenschlaf, daher schreckte ich zusammen, als Roth weiterredete.
»Wie Sie sich denken können, hat die Polizei eine Million Fragen an Sie, Herr Zorbach, und ehrlich gesagt wüsste ich auch gerne, was genau da bei Ihnen zu Hause vorgefallen ist. Herrgott noch mal, ein Polizist mit Bauchschuss, ein verletzter Mörder, und wie ich hörte, musste sogar ein Hund zur Tierrettungsstelle nach Düppel transportiert werden.«
»Ich kann jetzt nicht mit denen reden«, antwortete ich und stützte erschöpft den Kopf in die Hände.
Roth tätschelte mir sanft die Schulter. »Ob Sie es glauben oder nicht, aber das ist heute das erste Mal, dass ich Ihre Meinung teile. Ich hab Herrn Stoya schon gesagt, dass Sie sich nach dem Stress erst einmal ausruhen müssen und frühestens morgen Nachmittag für eine erste Vernehmung zur Verfügung stehen.«
Roth ging zu seinem Schreibtisch und drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Schwester? Herr Zorbach muss wieder zurück auf die Station.«
»Nein,
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