Der Augenjäger / Psychothriller
Alten auf der Couch, wie er sich seine Lesebrille zurechtrückte, und fragte mich, ob das auch für Menschen galt. Ob irgendwann das Schicksal einen Stein durch die Scheibe unseres Lebens wirft und wir die Folgen dieses Einschlags nicht mehr korrigieren können, sosehr wir uns auch bemühen.
»Wie kommen Sie an das Testament meiner Tochter?«, fragte Leonard mit zittriger Stimme.
Ich schilderte ihm mit knappen Worten meine dramatische Begegnung mit Tamara.
»Sie liegt jetzt im Waldkrankenhaus auf der Entgiftungsstation«, schloss ich in der Hoffnung, dass sie nicht bereits in den Keller der Pathologie verlegt worden war. Als ich mich abgesetzt hatte, waren die Ärzte gerade mit Wiederbelebungsmaßnahmen beschäftigt gewesen.
»Wenn Sie wollen, bringe ich Sie hin«, versprach ich vollmundig. Als der Taxifahrer mich an der Adresse absetzte, die Tamara sorgfältig auf dem Briefumschlag notiert hatte, war mir in der Einfahrt des kleinen Einfamilienhauses ein alter Volkswagen aufgefallen. Da mein Kopf seit einer geraumen Weile wieder schmerzte, war ich mir aber nicht sicher, ob ich in meinem Zustand selbst fahren sollte.
»Wir sollten ein Taxi nehmen«, schlug ich deshalb vor.
»Ja«, sagte Leonard mit bebender Unterlippe. »Gute Idee.«
Das Testament glitt ihm aus den Händen. »Geben Sie mir nur etwas Zeit, bitte. Ich … ich muss mich erst umziehen.«
Er sah an sich herab, zupfte einige Flusen von seiner Kleidung. Die Haare der Perserkatze fanden sich überall: auf seiner Cordhose, auf dem Morgenmantel, sie hingen dem Alten sogar an seinen Bartstoppeln, seitdem er das Tier zu Beginn unserer Unterhaltung von seinem Schoß genommen und kurz mit ihm geschmust hatte.
Er versuchte aufzustehen, aber augenscheinlich fehlte ihm die Kraft, und er sank wieder zurück in die Polster. Dann schlug er die Hände vors Gesicht.
Ich setzte mich neben ihn und legte ihm den Arm um die dünnen Schultern. Er stöhnte auf.
»Wissen Sie, ich wusste, es würde so kommen. Sie hatte es schon oft angedeutet.«
»Dann hat Ihre Tochter mit Ihnen über Suker gesprochen?«
Leonard Schlier sah mich an. »Der Brief war offen, Herr Zorbach. Ich gehe davon aus, dass Sie ihn gelesen haben, nicht wahr?«
Ich nickte und fühlte mich wie ein auf frischer Tat ertappter Dieb.
»Keine Sorge, ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Ich kenne Sie aus dem Fernsehen. Sie haben Ihre Familie verloren. Ich verstehe nur nicht, was Tamara mit Ihrem Schicksal zu tun hat.«
»Das wüsste ich auch gerne. Ich habe mehrere lose Enden in der Hand, aber wenn ich an ihnen ziehe, verwirrt sich alles nur noch mehr. Ich begreife es einfach nicht. Ihre Tochter kopierte ein Kinderbild meines Sohnes auf Befehl einer Frau – der Assistentin von Suker –, die vermutlich auch an der Entführung einer guten Freundin von mir beteiligt war.«
»Iris«, nickte Leonard.
»Genau. Iris.«
Sie schien das fehlende Bindeglied in der Kette zwischen Julian, Frank, Tamara und Alina zu sein. Ihretwegen hatte ich mich hierher auf den Weg zu dem kleinen Einfamilienhaus in Nikolassee gemacht, am Stadtrand kurz vor dem ehemaligen Grenzübergang Dreilinden. Angestachelt von den Hinweisen in Tamaras Testament.
»Ich muss Sie um Verständnis bitten, Herr Zorbach, immerhin hat meine Tochter gerade versucht, sich das Leben zu nehmen. Ich bin wohl kaum in der Lage, Ihnen zu helfen, noch wüsste ich, wie.«
»Nun, ich denke, das wissen Sie doch«, sagte ich und löste meine Hand von seinen Schultern. So schwer es mir fiel, aber die Minuten verrannen, und es wurde Zeit, mit dem Schmusekurs aufzuhören.
»Sie haben den Letzten Willen Ihrer Tochter bis zum Schluss gelesen, oder?« Ich hob den Zettel wieder auf, der ihm entglitten war, strich das Papier glatt und suchte nach dem entscheidenden Absatz.
»Ja, und?«
»Sagen Sie es mir!« Ich blickte Leonard Schlier fest in die Augen. »Was meint Ihre Tochter, wenn sie am Ende schreibt:
Und das ist mein Vermächtnis an Dich, Papa. Sollte ich nicht mehr leben, lasse ich Dich mit einer schweren Bürde zurück. Denn dann bist du der Einzige, der Iris kennt und weiß, wie man sie zur Strecke bringen kann, und ich hoffe, Du findest nach all dem, was ich Dir über sie erzählt habe, die Stärke dazu, die mir nicht mehr gegeben war.«
54. Kapitel
Alina Gregoriev
N achdem Alina sich fallen gelassen hatte, entführte sie der Aufprall auf dem OP -Tisch in eine andere Welt.
Ihr Kopf knallte hart und mit einem dumpfen »Klonk« auf die Oberfläche des
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