Der Augenjäger / Psychothriller
übel, und du wirst mich hier gleich alleine zurücklassen. Sorry, aber positives Denken fällt da etwas schwer.«
»Ich werde dich nicht alleinlassen.«
Nicola lachte hysterisch auf. »Oh doch, du Mistkuh. Genau das wirst du, denn das ist unsere einzige Chance, hörst du? Du wirst jetzt zur Tür da rausgehen und Hilfe holen.«
Alina schüttelte den Kopf. »Nein, ich verstecke mich und werde mit ihm …«
»Was, kämpfen? Bist du bescheuert? Suker ist ein brutaler Vergewaltiger, stark wie ein Ochse. Du dagegen bist eine magersüchtige Blindschleiche. Hau endlich ab, bevor ich es mir anders überlege.«
Alina konnte nicht umhin, den Mut des Mädchens zu bewundern. Über ein halbes Jahr schon war sie durch die Hölle gegangen, und nun schickte sie ihre einzige Verbündete wieder von sich fort. Auch wenn das vielleicht die einzig logische Entscheidung war, zeugte es von einer gewaltigen Charakterstärke, sie zu fällen.
»Und nimm den Kittel mit«, sagte Nicola, etwas weniger laut, als sie spürte, dass Alina einen Schritt von ihrem Tisch zurückgetreten war.
»Sukers Kittel?«
»Ja. Draußen ist es kalt.«
»Vergiss es. Eher erfriere ich, als etwas von ihm auf meiner Haut zu tragen.«
Zu ihrem Erstaunen begann Nicola schallend zu lachen. »Sag mal, wer von uns steckt eigentlich noch in der Pubertät? Du bist zwar echt eine coole Sau, aber du hast einen völligen Knall. Es ist Winter. Nimm den verdammten Kittel.«
»Ja, Mama.«
Alina ging vorsichtig durch den Raum in die Richtung, in der sie die Tür vermutete. Da Nicola sie nicht korrigierte, nahm sie an, dass sie auf Kurs war, und tatsächlich stieß sie mit dem Ellbogen an den Garderobenständer, kurz bevor sie den Ausgang erreicht hatte.
Nicola hustete, dann rief sie ihr mit einem heftigen Zittern in der Stimme hinterher: »Bitte, pass auf dich auf, ja. Suker hat schon einmal eine geschnappt, die abhauen wollte. Ihr Name war Tamara.«
Tamara Schlier,
schoss es Alina durch den Kopf, als sie die Klinke gefunden hatte. »Was ist mit ihr geschehen?«
»Er hat ihr auch die Lider entfernt, wie den anderen Frauen. Nur ohne Betäubung.«
Die Antwort ließ sie noch stärker frösteln. Sie tastete nach dem Kittel und wollte ihn sich gerade überstreifen, als Nicola sagte: »Und hey, noch was.«
»Was?«
»Dein Hals.«
»Was ist damit?«
»Cooles Tattoo.«
56. Kapitel
Alexander Zorbach
R egnet es?«, fragte Leonard Schlier und blickte zum Fenster. Seit er uns ein Taxi gerufen hatte, hatte er die Zeit damit verbracht, etwas umständlich seine hochgeschlossenen Stiefel zu binden. Seine Hausschuhe hatte er ordentlich unter den Couchtisch gestellt.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie Menschen in Extremsituationen sich an alltägliche Handlungen klammern. Sowohl in meiner Karriere als Polizeipsychologe als auch später bei der Zeitung habe ich oft genug erleben müssen, wie Angehörige mit schlimmen Nachrichten konfrontiert wurden. Eine Mutter, deren Sohn bei einem Tankstellenüberfall ins Gesicht geschossen worden war, wollte noch schnell seine Lieblingshose bügeln, bevor sie auf die Intensivstation fuhr. Ein Vater, dessen Sohn von seinen Mitschülern so sehr gemobbt worden war, dass er sich auf dem Dachboden erhängte, bestand darauf, dass ich die Nudeln kostete, die er für die Familie zum Abendbrot gekocht hatte. All diese Menschen waren weder gedanken- noch gewissenlos, sie versuchten nur, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Die Verrichtung ihrer Alltagsroutine bewahrte für sie noch einen kurzen Moment den Anschein einer intakten Welt, in der man sich eben wetterfest anzuziehen hatte, bevor man aus dem Haus ging, selbst wenn der Ausflug höchstwahrscheinlich, so wie in Leonards Fall, mit der Identifizierung seiner toten Tochter enden würde.
»Für Regen ist es zu kalt«, antwortete ich und lenkte ihn dann auf das Thema zurück, weswegen ich gekommen war. »Sie sagten, Iris habe bei einer Telefonseelsorge gearbeitet?«
»Ja.« Der Alte ließ von seinen Stiefeln ab und setzte sich wieder auf die Couch. »Sie war der Lockvogel. Saß wie eine Spinne im Netz, um für Suker die Opfer auszuwählen.«
Ich dachte laut über diese neue Information nach. »Tamara hatte mit Iris also schon vor ihrer Entführung Kontakt?«
Leonard nickte. »Sie hat sie angerufen. Eine dieser verdammten Nummern aus dem Internet, und Iris saß auf der anderen Seite. Verstehen Sie, wie sehr einen das beschäftigt, wenn die eigene Tochter sich eher einem Fremden am Telefon als
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