Der Augenjäger / Psychothriller
OP -Tisches, aber es reichte nur für eine Gehirnerschütterung, nicht für eine Ohnmacht. Daher spürte Alina, wie sie sich gleichzeitig die Hüfte, mehrere Wirbel und den Unterkiefer prellte. Weil sie sich beim Fallen unglücklich gedreht hatte, rammte sie sich den rechten Ellbogen unter den Rippenbogen. Zwei Rippen brachen, zum Glück trat keine davon in ihre Lunge, aber die Schmerzen waren trotzdem schlimmer als alles, was sie je zuvor in ihrem Leben gespürt hatte. Schlimmer als der Unfall, als der Betrunkene sie an dem Zebrastreifen übersehen hatte. Schlimmer noch als die Wundschmerzen nach der Explosion, die sie hatte erblinden lassen.
Zwar waren sie nicht so stark wie vor zwei Monaten, als sie die Hand auf eine glühende Herdplatte gepresst hatte, dafür aber waren sie gegenwärtiger.
Permanenter.
Und deswegen schlimmer.
Sie schienen keinen Höhepunkt zu haben, wollten nicht abflauen, sondern blieben auf einem konstant hohen, unerträglichen Niveau, von jedem Atemzug aufs Neue entflammt.
Vielleicht war das der Grund, weshalb diesmal ihre Visionen, die sich wie immer unter starken Schmerzeinwirkungen einstellten, noch intensiver waren als sonst.
Kurz nachdem sie auf dem OP -Tisch aufgeschlagen war, hatte sie wieder das Gefühl, in einem anderen Körper zu sein. Sie hielt sich mit beiden Händen den Kopf und sah mit fremden Augen, gefangen in einer Szene, die sie schon kannte.
Sie hörte eine Frauenstimme sagen:
»Das war dein gerechter Finderlohn.«
Dann wurde es schwarz um sie, und sie spürte ein weiteres Mal die letzten verzweifelten Gedanken eines Sterbenden, die sie schon einmal empfangen hatte; vor wenigen Tagen, als sie Suker in der Untersuchungshaft hatte berühren müssen.
»Ich will mein Geld zurück.«
Dann, verzweifelt:
»Aber vielleicht ist das hier ja wirklich die gerechte Strafe für meine Schuld. Vielleicht hätte ich Julian …«
Anders als im Gefängnis rissen die Bilder an dieser Stelle nicht ab. Die Person, in der sie sich befand, schlug ein letztes Mal im Todeskampf die Augen auf – und sah …
Eine Frau.
Sie sah aus wie ihre Mutter, wie immer in ihren Visionen, in denen die Gestalten die Züge ihrer Eltern annahmen, weil sie sich an andere Gesichter nicht mehr erinnern konnte.
Die Frau geht durch ein Zimmer. Ich sehe einen Herd, so wie den, auf dem Mama immer Grießbrei für uns kochte. Ich habe Schmerzen, stöhne, aber die Frau achtet nicht auf mich. Sie dreht mir den Rücken zu und öffnet die oberste Schublade eines Küchenschranks, nimmt etwas heraus, das ich nicht kenne und daher nicht sehen kann. Sie kniet neben dem Schrank nieder, zu einer … ja, zu einer anderen Frau. Die Haare liegen ihr wie ein Vorhang vor dem Gesicht, sie lehnt an mehreren Stangen. An einer Heizung. Ein Arm hängt gefesselt an den Rippen in Kopfhöhe. Sie kann nicht ausweichen, schreit wie am Spieß: »Nicht, tun Sie das nicht!« Aber die Frau lacht nur und reißt ihr die Haare nach hinten, damit die Gefangene den Mund aufreißt. Dann steckt sie ihr den Gegenstand aus der Küchenschublade in den Mund.
Ein ohrenbetäubender Schuss katapultierte Alina in die Realität zurück.
55. Kapitel
M it einem heftigen Klingeln in den Ohren glitt sie aus ihren Halluzinationen in ein Meer aus Schmerzen. Die Gegenwart war unerträglich, schlimmer noch als die Vision, die von ihr abgefallen war, und trotzdem lachte Alina. Laut, aus voller Kehle, ohne Rücksicht auf die gebrochenen Rippen, die sich mit jeder Zuckung in sie hineinbohrten, jedoch nicht mehr mit der Intensität, die die Vision ausgelöst hatte.
Ich habe es geschafft.
Der OP -Tisch hatte sich nach ihrem Aufprall aufgebäumt wie ein bockendes Pferd, und für einen Augenblick hatte sie befürchtet, mit ihm seitwärts zu kippen, aber dann hatte er seinen Mittelpunkt wieder gefunden.
Verdammt, ich habe es tatsächlich geschafft!
Sie hatte die Plane des Operationszelts festgehalten und mit ihrem Körpergewicht komplett aus der Deckenverankerung gerissen.
»Hey, nicht wieder einschlafen. Beeil dich!«, hörte sie Nicola rufen.
Jetzt, da sie wieder bei vollem Bewusstsein war, konnte Alina ihre Anweisungen mit zusammengebissenen Zähnen befolgen. Der Kittel hing tatsächlich in Griffweite an einem Metallständer, schräg hinter ihrem Kopf. Sie drehte sich leicht, das allein trieb ihr Tränen der Anstrengung in die Augen, aber die schmerzhafte Mühe lohnte sich. Wie von dem Mädchen vermutet, befand sich Sukers Schlüsselbund in einer der
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