Der Augenjäger / Psychothriller
an einem Vorhang.
»Noch mehr. Du musst die Schleuse so weit öffnen, wie es nur geht. Am besten, du reißt das Ding ganz runter.«
»Wieso?«
»Weil ich glaube, dass in Höhe deines Kopfes, direkt hinter der Plane, ein Garderobenständer steht.«
Großer Gott. Was soll der uns bringen?
Alina riss an der Kunststofffolie und hörte ein Knarren über ihrem Kopf.
»Woran ist die Plane befestigt, Nico?«
»Keine Ahnung. An einem stinknormalen Haken, aber der sitzt fest. Und nenn mich nicht Nico.«
Alina zog stärker und spürte, wie die Plane nachgab, aber es gelang ihr nicht, sie aus ihrer Deckenverankerung zu reißen.
»Das funktioniert so nicht.«
»Das muss es aber«, protestierte Nicola aufgeregt.
»Ach ja, und weshalb? Woher willst du wissen, dass der Garderobenständer hinter mir fest im Boden verankert ist? Selbst wenn ich an ihn rankomme, was soll das bringen, wenn ich mich daran nicht weiter zur Tür hangeln kann?«
»Darum geht’s doch gar nicht.«
»Sondern?«
»An dem Ständer hängt Sukers Kittel.«
Das darf doch nicht wahr sein.
»Ich glaube, nackt zu sein ist im Augenblick mein geringstes Problem, Nicola.«
»Du verstehst nicht …« Das Mädchen klang immer aufgeregter. »Den Kittel hat Suker vorhin getragen, als er mich operierte.«
»Und?«
»Und ich habe gesehen, wie er einen Schlüsselbund in die Seitentasche gesteckt hat, bevor er mich betäubte.«
51. Kapitel
Philipp Stoya und Martin Roth
W as soll das heißen, Sie wissen nicht, wo er ist?«
Sie standen vor dem Wartebereich der Notaufnahme in der Waldklinik Zehlendorf, wenige Autominuten von Schwanenwerder entfernt, und Stoya hatte keine Lust, seine Stimme zu senken, auch wenn ihm eine vorbeieilende Schwester einen mahnenden Blick zuwarf.
»Schwanenwerder wird rund um die Uhr bewacht. Wie kann Zorbach da so einfach rausmarschieren?«
Roth machte eine wegwerfende Handbewegung, die deutlich signalisierte, dass es ihm zu blöd war, sich vor dem Polizisten rechtfertigen zu müssen – und wandte sich ab.
»Hey, ich rede mit Ihnen!« Stoya griff nach dem Arm des Psychiaters.
»Nein. Sie brüllen«, sagte Roth, blieb aber stehen. »Es mag Ihnen vielleicht entfallen sein, Herr Kommissar, aber auf Schwanenwerder passen die Wachmannschaften auf, dass niemand
hinein
kommt. Die Patienten dort sind keine Gefangenen, sie können kommen und gehen, wie es ihnen beliebt, sofern keine medizinische Indikation dagegenspricht.«
»Ach, und ein Schuss durch den Kopf reicht Ihnen als
medizinische Indikation
also nicht aus?« Stoya schlug sich gegen die Stirn. »Ich fasse es nicht.«
»Nur zur Erinnerung!« Roth fuchtelte mit dem Zeigefinger vor der Brust des Polizisten. Am liebsten hätte er das selbstgefällige Arschloch damit aufgespießt. »Es war Ihr Kollege Scholokowsky, der gestern Nacht gegen meinen Willen Zorbachs Entlassungspapiere unterzeichnet hat.«
»Wofür er sich zu rechtfertigen haben wird, sobald er aus der Narkose wieder aufwacht«, sagte Stoya, jetzt doch etwas leiser.
»Falls er je wieder aufwachen wird«,
stand unausgesprochen zwischen ihnen.
Der Psychiater trat einen Schritt näher. Als Mediziner konnte er nicht anders. Wenn er einem Menschen ins Gesicht sah, suchte er immer nach Anzeichen, die auf den Gesundheitszustand des Gesprächspartners schließen ließen, selbst jetzt. Die Schatten unter Stoyas Augen, die aufgerissenen Lippen und die stumpfen Haare sprachen Bände und belegten den Erschöpfungszustand des Polizisten. Immerhin hatte er sich rasiert, wenn auch hastig, weshalb sein Hals jetzt aussah, als hätte ihn an mehreren Stellen eine Katze gekratzt.
»Es geht Herrn Zorbach erstaunlich gut. Momentan scheint er sehr belastbar.«
»Ach, und deshalb haben Sie auf Schwanenwerder jetzt eine Drehtür für ihn eingebaut, damit er kommen und gehen kann, wie er will?«
»Nein. Ehrlich gesagt habe ich sogar darauf bestanden, dass er mich begleitet. Da wir keine Entgiftungsstation haben, mussten wir Frau Schlier hierher verlegen, und das so schnell wie möglich.«
Hinter ihnen öffnete sich eine Tür, und sie mussten einer Patientin Platz machen, die sich mit einem Tropf am Arm aus ihrem Zimmer begeben wollte.
»Wir wissen noch nicht, womit genau Tamara sich vergiftet hat, aber Zorbach muss dabei gewesen sein, als sie es tat«, flüsterte Roth und sprach erst wieder lauter, als die Patientin vorbei war. »Ich wollte, dass er den Notärzten im Wagen und den Medizinern hier vor Ort Rede und Antwort stehen kann,
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