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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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klang noch aufgeregter, als ich mich fühlte. »Ich habe Angst.«
    Angst? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass Frank jemals über seine Gefühle geredet hätte. Normalerweise war er darum bemüht, mit frechen Sprüchen von seiner wahren Gefühlslage abzulenken. Seinen Artikel über die Misshandlung alter Menschen in Pflegeheimen zum Beispiel nannte er selbst nur die »Gammelfleischstory«. Zwischen den Zeilen konnte ich jedoch seine Wut und Verzweiflung herauslesen, ganz besonders in dem Abschnitt über die demenzkranke Patientin mit Brustkrebs im Endstadium, der man aus Kostengründen kaum noch Schmerzmittel gab. »Wo sollte die sich schon beschweren? Ihre Kinder kommen nur ein Mal die Woche, und dann kann sie sich ja an nichts mehr erinnern«, hatte Frank eine zynische Schwester zitiert, die er während seines Zivildienstes in dem heruntergekommenen Heim kennengelernt hatte. Ich wusste, tief in seinem Inneren hatte er gefeiert, als nach der Veröffentlichung seiner Reportage das gesamte Personal ausgewechselt wurde, auch wenn er das mir gegenüber niemals zugegeben hätte. »Wo bist du?«, fragte er hastig.
    »Recherche«, sagte ich und passierte die Drehtür des Klinikausgangs. Bislang wusste nur Nicci von meinen gesundheitlichen Problemen, und das sollte auch so bleiben. »Was um Himmels willen ist denn passiert?«
    »Du weißt doch sicher, dass neunzig Prozent aller Justizirrtümer auf falsche Indizien zurückgehen.« »Erspar mir wenigstens diesmal einen Vortrag und komm zur Sache. Worum geht es?« »Um deine Brieftasche.«
    Verdammt. Ich griff mir an den Kopf. In der ganzen Aufregung gestern hatte ich komplett vergessen, meine Kreditkarten sperren zu lassen.
    »Hat die Polizei sich gemeldet?«, fragte ich und sah in den trüben Novemberhimmel. Die Temperaturen waren während meines Termins bei Roth merklich gefallen, aber wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. »Sie waren hier in der Redaktion, nachdem sie dich weder auf dem Handy noch zu Hause erreichen konnten.« Deshalb also hatte Stoya mich auf meinem Weg zu Dr. Roth unentwegt angeklingelt. Ich hatte ihn erst nach meiner Sitzung mit dem Psychiater zurückrufen wollen. »Sag mir bitte nicht, dass meine Konten leergeräumt wurden.«
    »Schlimmer.«
    Schlimmer? Was kann man Schlimmeres mit einem Portemonnaie anstellen, als seinen Besitzer zu schröpfen? »O Mann, vielleicht darf ich dir das gar nicht sagen.« Ich suchte meinen Wagen auf dem Klinikparkplatz, der sich zur Mittagszeit gut gefüllt hatte. »Bist du betrunken?« »Ich habe das doch nur zufällig mitbekommen, als ich mir einen Kaffee holen wollte und an Theas Büro vorbeigegangen bin.«
    Thea Bergdorf? Was hat die Polizei mit der Chefredakteurin zu besprechen?
    »Jetzt mach nicht so lange rum, Frank, und sag mir endlich, was los ist.«
    »Also, wenn ich das richtig mitbekommen habe, dann haben sie deine Brieftasche gefunden, und alles ist noch drin. Selbst das Bargeld.«
    Irgendein Vollidiot hatte seinen Geländewagen so dicht neben meinen Volvo geklemmt, dass ich von der Beifahrerseite aus einsteigen musste, wenn ich ihm nicht den Lack zerkratzen wollte.
    »Aber das ist doch eine gute Nachricht«, sagte ich. »Scheiße, nein. Die haben deine verdammte Brieftasche in der Nähe des Tatorts gefunden. Irgendwo im Garten.« Ich hatte gerade den Autoschlüssel aus meiner Hosentasche gezogen, als ich mitten in der Bewegung innehielt. In der Nähe des Tatorts?
    Das konnte nicht sein. Auf einmal erschien mir der Anruf völlig unwirklich. Ich konnte, nein, ich wollte nicht glauben, was mein Volontär mir gerade erzählt hatte. »In welchem Garten?«, fragte ich, obwohl es nur eine Antwort geben konnte.
    »Da, wo sie die Mutter gefunden haben«, flüsterte Frank.
    »Das Opfer der vierten Spielrunde des ...«
    Mitten im Wort »Augensammler« drückte ich ihn weg.

74. Kapitel
     
    Schließlich klemmte ich mich doch durch die Fahrertür.
    Wieso sollte ich Rücksicht auf jemanden nehmen, der mir mit seinem Geländewagen auf die Pelle gerückt war? Wenigstens hätte er seinen Außenspiegel einfahren können, wenn die Dinger schon so groß wie ein Tennisschläger sein mussten.
    Ich musste mich zwingen, auf dem Klinikgelände die Geschwindigkeitsbegrenzung einzuhalten. Doch schon kurz nach der Ausfahrt gab ich Gas und jagte die Potsdamer Straße hoch.
    Nachdenken. Du musst nachdenken.
    Bislang hatte ich mich in meinem Leben nicht gerade durch besonnenes und überlegtes Verhalten hervorgetan. Erst vor

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