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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Oder um nachzudenken ... Doch diesmal wollte sich das behagliche Gefühl nicht einstellen, mit dem ich mich sonst an den kleinen Sekretär gesetzt hatte, direkt unter das Sprossenfenster zur Waldseite. Ich war nervöser als in den Sekunden vor Redaktionsschluss, wenn ich meine letzten Zeilen noch tippen und gleichzeitig gegen die Uhr und den Nikotinentzug ankämpfen musste, der sich nach stundenlanger, konzentrierter Arbeit regelmäßig einstellte, seitdem Thea ein Rauchverbot in der Redaktion verhängt hatte. »Kaffee?«, fragte ich und ging zu der kleinen Kombüse am Kopfende der Kabine. Sie war nicht mehr als eine kleine Bar mit zwei Einbauschränken und einer Spüle.
    »Schwarz«, war die lakonische Antwort. Alina wirkte weitaus ruhiger als ich, obwohl ihr doch ebenso viele Fragen wie mir im Kopf umherschwirren mussten. Immerhin war sie mit einem völlig Unbekannten mutterseelenallein im Wald.
    Und sie war blind!
    Ich setzte den Campingbunsenbrenner in Gang. »Sie sagten, Sie haben den Augensammler erkannt?«, fragte ich, während ich in den Schränken nach dem löslichen Kaffeepulver suchte. Ich versuchte, jeglichen spöttischen Unterton aus meiner Stimme zu verbannen, was mir nicht leicht fiel. »Das bedeutet, Sie sind nicht vollständig erblindet?« Seitdem meine Mutter nach einem Schlaganfall ihr Augenlicht verloren hatte, wusste ich, dass es ein weitverbreiteter Irrtum ist, zu glauben, jeder Blinde lebe in absoluter Dunkelheit. In Deutschland gilt man offiziell bereits als blind, wenn man weniger als zwei Prozent dessen erkennen kann, was ein gesunder Mensch sieht. Und zwei Prozent können für den Betroffenen sehr viel bedeuten, auch wenn ich mir nicht sicher war, wie selbst diese geringste aller Sehstärken Alina zu der Erkenntnis verleitet haben sollte, den Augensammler gesehen zu haben.
    Vier Frauen, drei Kinder - sieben Tote in nur sechs Monaten. Und es gibt noch nicht einmal ein Phantombild des Serienmörders! Sie schüttelte den Kopf.
    »Wie ist es mit Umrissen, Schatten oder Ähnlichem?«, fragte ich.
    »Nein. Keine Konturen, Farben, Lichtblitze oder so was. Bei mir ist alles weg. Das heißt ...« Sie zögerte. »Alles bis auf meine Hell-Dunkel-Empfindlichkeit. Wenigstens die ist mir geblieben.«
    Geblieben.
    Also war sie nicht von Geburt an blind. Das Wasser in der Aluminiumtasse auf dem Campingkocher begann zu kochen, und ich rührte zwei Löffel des Pulverkaffees hinein.
    »Eben, als Sie mir in die Augen geleuchtet haben, spürte ich, dass es hell wurde. Das ist so, wie wenn Licht durch einen sehr dicken Vorhang fällt. Man kann nichts dahinter erkennen, aber man fühlt eine Veränderung.« Sie lächelte.
    »Mir hilft das im Alltag sehr. Ich kann zum Beispiel die Tageszeiten unterscheiden. Das ist übrigens der Grund, weshalb ich mir im Flugzeug immer einen Fensterplatz geben lasse. Die meisten Flugbegleiter begreifen nicht, wieso, einer wollte mich schon mal umsetzen, aber ich habe ihm einen Vogel gezeigt. Es gibt nichts Schöneres als die Lichtintensität über den Wolken, finden Sie nicht?« Ich bejahte ihre Frage, obwohl ich mir eingestehen musste, bei meinem letzten Flug gar nicht aus dem Fenster gesehen zu haben. Die fünfzig Minuten nach München hatte ich dazu genutzt, ein Interview vorzubereiten. Ich nahm den Kaffeepott vom Bunsenbrenner und trug ihn zur Couch, wo ich ihn neben den Aschenbecher stellte. »Der Augensammler«, ich zögerte, während ich mich auf einen alten Ledersessel setzte, der im rechten Winkel zur Couch stand. »Wie haben Sie ihn erkannt?« Wie, wenn alles, was Sie sehen können, ein Schatten auf Ihrer Netzhaut ist?
    Sie lächelte. »Das ist die Eine-Million-Euro-Frage, nicht wahr?«
    Ich sagte nichts. Nach Tausenden von Interviews hatte ich einen Instinkt entwickelt, der mir sagte, wann ein Gesprächspartner von alleine weiterredete und wann eine Zwischenfrage angebracht war.
    »Na, mal sehen, wie lange Sie mir noch zuhören, wenn ich Ihnen gleich die Antwort verrate. Der Polizist gestern hat mich wie eine Bekloppte behandelt. Wollte mich gar nicht erst zu den Ermittlern vorlassen.«
    Sie biss sich auf die Unterlippe und sprach dann weiter. »Ehrlich gesagt, kann ich es ihm nicht mal übelnehmen. Ich glaub's ja selbst kaum.« »Was glauben Sie nicht?«
    Sie sog hörbar die Luft ein. Dann verschränkte sie beide Hände hinter dem Kopf und starrte zur Decke. »Es ist so unfair. Scheiße, ich will das nicht.«
    »Was?«
    Alina antwortete nicht mehr.
    »Was wollen Sie

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